Sturmsommer
fragte ich und schob vorsichtig meine Reithose hoch. Mein Knie blutete. Es brannte wie Feuer und die Hose klebte schon ein wenig an der Wunde fest. Autsch. Lissi wurde noch ernster.
»Doch, ich denke, ich kann es dir sagen«, murmelte sie nach einigem Nachdenken leise. »Er musste heute einem seiner Patienten sagen, dass er nicht mehr viel Zeit hat.«
»Wie, nicht viel Zeit?«, fragte ich und vergaß kurzzeitig Damos und mein Knie. Lissi blickte mich nur stumm an und nickte, und ich kapierte langsam, was sie meinte. Manchmal muss Papa Menschen sagen, dass sie sterben werden. Und an diesen Tagen ist er still und traurig. Oder still und zornig. Und wenn ihm dann jemand querkommt, explodiert er.
»Aber warum haben sie mich dann hochgeschickt? Wenn sie das doch gar nicht so gemeint haben mit Damos?«
»Ach Tom, die sind ein Ehepaar, da ist das eben so.« Ich hörte auf, trotzig zu sein. Es hat außerdem niemals Sinn, mit Lissi rumzuzanken. Und sie kennt Mama ja schon einige Jahre länger als ich. Wenn sie sagt, dass Mama mir Damos nicht wegnimmt, muss ich ihr das einfach glauben. Und ich wollte es so sehr glauben.
Lissi hat dann noch mein Knie untersucht und mir ein Pflaster aufgeklebt, obwohl ich Pflaster hasse wie die Pest. Aber sie meinte, ich würde sonst das ganze Bettzeug versauen. Ich war auf einmal hundemüde, aber noch ziemlich hungrig. Jetzt bereute ich es, vom Tisch abgehauen zu sein. Lissi holte mir heimlich ein Glas Kakao und Kekse aus der Küche. Immer wenn ich reiten war, könnte ich einen kompletten Kuchen verdrücken. Auf einen Schlag.
Danach bin ich ziemlich schnell eingeschlafen, mit Damos’ Pferdegeruch in der Nase, aber Musik hatte ich nicht mehr gelernt.
Der Test hatte überhaupt nicht geklappt. Zu Hause hatte ich nichts davon erzählt. Wenn ich nur in Musik eine Vier im Zeugnis bekommen würde, wäre das nicht so schlimm. Aber in Mathe bin ich noch viel schlechter.
Na ja, jetzt kriegen wir erst mal den Test raus. Hilft alles nichts. Der Klanke reißt bestimmt wieder blöde Bemerkungen über die Noten. Ich finde, er riecht immer nach Gemüsesuppe. Nach Sellerie. So nennen ihn die meisten. Sellerie. Er sieht auch aus wie Sellerie, so fahl und struppig.
Und wie er die Tests zurückgibt! Er ruft jeden Einzelnen auf und dann muss man vor der ganzen Klasse zu ihm nach vorne zum Pult kommen und sich den Test abholen. Jetzt müsste ich eigentlich drankommen.
»Thomas Birkmeier bitte!« Ich hab’s ja gewusst. Ich gehe langsam nach vorne. Er schaut mich missbilligend an, und ich habe das Gefühl, ich stehe in einer Suppenküche. Ich halte die Luft an, damit ich seinen Atem nicht riechen muss. Wenn da nun wirklich eine Suppe stünde, wäre das ja okay, aber da sitzt ein Mensch.
»Ich habe nichts anderes erwartet«, sagt er betont locker. »Nimm dir ein Beispiel an deiner Schwester Lissi! Man sollte nicht meinen, dass du ihr Bruder bist!«
Langsam kriege ich keine Luft mehr und beginne, nervös mit dem Fuß zu wippen. Umständlich legt er mir den Test hin. Es ist keine Vier, keine Fünf, keine Sechs, aber eine Vier-bis-Fünf.
»Der kann mich mal kreuzweise«, flüstere ich Toni zu, als ich wieder an meinem Platz bin. Er nickt mitleidig, starrt aber aufgeregt nach vorne. Er hat seinen Text schließlich noch nicht bekommen. »Du hast das Thema der Liebe nicht begriffen«, entziffere ich Klankes schmierige Schrift, indem ich seine Worte halblaut vor mich hin lese. Toni kichert. Was gibt’s denn da zu begreifen? Schräg vor uns flüstert Tanja Barbara etwas zu. Tanja, die Einzige, die mich damals nicht zum Klassensprecher gewählt hat. Die immer Einsen schreibt, fast in jedem Fach. Was hat sie denn jetzt zu flüstern? Es kann ihr doch egal sein, was ich für Noten schreibe und warum. Das geht sie gar nichts an.
Jetzt fällt mir ein, dass morgen auch noch eine Mathearbeit ansteht. Ich will gar nicht daran denken. Früher war ich mal richtig gut in der Schule. Ich weiß nicht, wie ich das damals gemacht habe. Es ging eigentlich von alleine. Ich hab nicht viel dafür getan. Aber da hatte ich auch Damos noch nicht.
Was verdammt ist hier der Hauptnenner? Diese Mathearbeit ist eine Katastrophe. Entweder sind die Aufgaben verteufelt schwer, oder ich hab viel zu wenig gelernt. Gestern habe ich beim Reiten wieder die Zeit vergessen. Ich hatte meine Uhr nicht an, aber ich war mir sicher, dass ich rechtzeitig zurückkommen würde. Aber so war es nicht. Als ich zu Hause eintrudelte, war zum Glück niemand
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