Sturmsommer
nicht daran. Ich verharre ein paar Sekunden, bis ich etwas erkennen kann. Johannes und Anne liegen im hinteren Teil des Wagens. Sie schlafen. Ich kann deutlich ihren ruhigen Atem hören.
Jetzt kommt der schwierigste Teil. Ich muss in den Wagen klettern. Ich setze meinen linken Fuß auf das Rad unter mir. Es ist von zwei mächtigen Steinen blockiert, das müsste halten. Mit den Händen greife ich nach den Holzdielen. »Stell dir vor, es ist ein Pferd«, sage ich zu mir. Ich atme noch einmal tief ein und ziehe mich dann hoch, Zentimeter für Zentimeter. Meine Muskeln brennen vor Anstrengung. Geschafft. Ich hocke auf dem Boden und versuche, mich zu orientieren. Wo könnten ihre Handys sein. Im Gepäck? Dann habe ich verloren. Das Gepäck liegt durcheinander auf einem großen Haufen, unzählige bunte Rucksäcke und Taschen. Die kann ich niemals alle durchwühlen. Daneben steht die Kiste mit den Pferdemedikamenten. Ob die Handys dort drin sind? Als ich sie zu mir ziehe, klappern die Scharniere. Ich zucke zusammen und warte darauf, dass einer der beiden aufwacht. Aber Johannes dreht sich nur mit einem leisen Schnarcher um. Dann werden seine Atemzüge wieder gleichmäßiger.
Verdammt. Die Kiste ist abgeschlossen. Wo können die Handys noch sein? Wo hat Lissi immer ihr Handy? Im Bett - natürlich. Das macht Sinn. Man ist allzeit erreichbar und kann sofort telefonieren, wenn irgendetwas ist.
Ich blicke zu Anne und Johannes. Anne liegt auf dem Rücken und hat den Mund offen stehen. Neben ihrem Kopf kann ich eine Flasche Wasser erkennen, und ja, da liegt noch etwas - ein Labello? Und das daneben? Ihr Geld … genau, das könnte ein Geldbeutel sein. Kein Handy. Aber zwischen den beiden Luftmatratzen sehe ich noch ein paar dunkle Schatten.
Ich muss da rüber. Ich kann von hier aus nichts machen. An meiner Schläfe läuft der Schweiß hinunter. Ich habe unerträglichen Durst. Aber darauf kann ich jetzt nicht achten. Auf den Knien ziehe ich mich zum Schlaflager, ganz an das Ende des Wagens. Wenn sie jetzt aufwachen, erwischen sie mich; von da hinten habe ich keine Chance, mich zu verdrücken. Ich bin in der Falle.
Mein Herz macht einen Sprung, als ich sehe, dass zwischen den beiden tatsächlich zwei Handys liegen. Ein eckiges schwarzes und ein elegantes silbernes. In dem Moment fällt mir ein, dass ich ja ihre Pinnummern brauche, wenn die Handys ausgeschaltet sind. Die habe ich natürlich nicht. Eine Tastensperre zu lösen, bringe ich noch fertig, aber eine Pinnummer herausfinden? Niemals. Denk nach, ermahne ich mich. Wie bei Mathe. Eins nach dem anderen. Das silberne Telefon mit dem Kettchen muss Anne gehören. Kein Mann kauft sich so ein Handy. Frauen telefonieren viel. Meistens jedenfalls. Lissi hat früher dauernd telefoniert. Und am liebsten nachts. Also ist die Wahrscheinlichkeit am größten, dass Annes Handy nicht ausgeschaltet ist.
Ich versuche die Entfernung zu schätzen. Komme ich mit meinem Arm da rüber? Ich muss es probieren. Ich stütze mich mit der linken Hand auf und greife über die schlafende Anne. Auf einmal fängt sie an, mit den Augen zu zucken. O Gott, nein, sie blinzelt. Ich starre sie an und warte darauf, dass sie mich erkennt und zu schreien beginnt. Doch das Blinzeln geht weiter, ohne dass sie aufwacht. Träumt sie etwa nur? Ist das diese Phase mit den rollenden Augen, von der unser Biolehrer mal erzählt hat? Ich lege meine Finger um das Handy. Langsam verlässt mich die Kraft. Jetzt nur keine schnellen Bewegungen. Mit aller Gewalt führe ich den Arm ruhig und quälend langsam zurück. Ich drücke eine Taste und das Licht des Displays zaubert einen blauen Schimmer auf Annes Haare. Es ist an. Das Handy ist an!
Ich lasse es in meine Pullitasche gleiten und mache mich konzentriert und zügig auf den Rückweg. Kaum habe ich den letzten Knopf der Plane geschlossen, fange ich an zu rennen. Nur weg von hier.
Das war eine Art Einbruch und Diebstahl zugleich, schießt es mir durch den Kopf. Aber es ging nicht anders. Als ich weit genug von den Zelten weg bin, lehne ich mich an einen Baum und mache mich daran, die Tastensperre zu lösen. Beim dritten Versuch klappt es. Mit bebenden Fingern wähle ich die Nummer von zu Hause.
Es tutet drei Mal, vier Mal, fünf Mal. O bitte, es muss doch einer rangehen, ihr hört das doch sonst auch immer, bitte.
»Ja?«, meldet sich eine verschlafene Stimme. Mama.
»Ich bin’s. Tom.«
»O Gott, Tom, ist was passiert, bist du gestürzt. Was ist los, Kind?« Mama ist
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