Sturmsommer
schlagartig hellwach und ich weiß auch, dass sie spätestens jetzt nicht mehr im Bett liegt, sondern mitten im Zimmer steht.
»Alles okay. Gib mir Papa. Schnell.«
»Aber was ist denn los?«
»Bitte, Mama, ich muss Papa sprechen. Gib ihn mir, schnell!« Meine Nerven werden immer dünner. Wieder habe ich den Wunsch, laut zu schreien und zu toben. Aber damit komme ich nicht ans Ziel.
»Was ist denn so wichtig, mitten in der Nacht?«, schallt Papas tiefe markante Stimme durch die Leitung. Ich bin so froh, ihn zu hören. Meine Knie werden weich. Ich würde mich gerne auf dem Boden legen und heulen und mich trösten lassen.
»Papa. Bitte hör mir zu. Das ist jetzt ganz wichtig. Wirklich. Du musst morgen früh Meteor kaufen.«
»Was muss ich? Tom, was redest du da, habt ihr getrunken?«
»Es gibt kein >ihr »Okay. Ist ja gut. Ich höre dir zu. Jetzt noch einmal ganz langsam: Was ist los?« Ich sehe Mama und Papa vor mir, wie sie sich rätselnd anschauen.
Ich hole tief Luft. »Meteor soll zum Schlachter. Im Herbst. Und Tanja geht es ganz schlecht deshalb. Wirklich schlecht. Sie isst nichts mehr. Sie ist ganz bleich. Sie schläft nachts draußen, bei Meteor auf dem Boden. Papa, ich weiß, dass ich etwas machen muss, und du hast doch immer gesagt, dass man Menschen in Not helfen soll, bitte kauf ihn! Ich zahle es dir auch zurück. Ich geh arbeiten, ich sortiere deine Akten in der Praxis, ich putze, ich mach alles, aber du musst mir jetzt helfen.«
»Tom, Tom. Hör mir mal zu. Schatz. Es ist normal, dass Pferde irgendwann zum Schlachter kommen. Das war schon immer so und wird auch so bleiben.«
»Aber…«, unterbreche ich ihn. Doch er ist schneller.
»Das sind Tatsachen. Das ist die Schattenseite von diesem Sport. Und nur weil du einen Daddy mit Kohle hast, heißt das nicht, dass ich jedem Reitschulmädchen ihr Lieblingspferd kaufen kann.«
Ich werde es nicht schaffen. Er hat ja recht. Es wird mir nicht gelingen. Das Handy piepst leise. Wahrscheinlich ist der Akku gleich leer.
»Ist was mit Tom?«, fragt Lissi ängstlich im Hintergrund. Es ist so schön, ihre Stimme zu hören. Ihr würde ich gerne alles erklären. Dazu ist keine Zeit. Doch zu wissen, dass sie da ist, macht mir Mut. Ich versuche es noch einmal.
»Nein, Papa, nicht jedem Mädchen. Aber Tanja. Beziehungsweise mir. Sie würde es sich nicht kaufen lassen. Und er ist so wichtig für sie. Sie hat überhaupt kein Geld, gar nichts. Sie kann nichts machen. Kauf ihn mir. Und ich lasse sie darauf reiten. Bitte, Papa. Bitte denk drüber nach. Er ist so ein tolles Pferd.« Jetzt laufen mir die Tränen runter. Er schweigt. Ich habe versagt. Er wird es nicht tun. Ich höre, wie Mama etwas zu ihm sagt, aber ich kann sie nicht verstehen. Sie klingt besorgt.
»Tom?«, fragt Papa. »Bist du noch da?«
»Ja«, sage ich ohne Stimme. Ich bin erschöpft und kaputt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass morgen die Sonne wieder aufgeht.
»Das Handy, mit dem du telefonierst - hast du das jetzt bei dir?«
»Ja«, sage ich bang. Bitte, Papa, frag nicht, wem es gehört. Er schweigt wieder, als würde er nachdenken. Papa weiß genau, dass ich mein Handy nicht dabei habe und Handys verboten sind. Nur - das darf jetzt keine Rolle spielen. Und ich hoffe, er kapiert das. Schließlich seufzt er leise. Warum seufzt er denn? Weil ich ihn nerve? Weil ihn das alles nicht interessiert?
»Geh schlafen, Tom. Du hörst dich nicht gut an. Ich hab ja jetzt die Nummer auf dem Display. Ich melde mich morgen früh noch mal. Schlaf jetzt.« Er legt auf.
Ich lasse mich auf den Boden fallen und beiße mir in den Arm, um nicht loszuschreien. Er ruft morgen früh noch mal an. Ich darf jetzt nicht durchdrehen. Er ruft noch mal an. Ich stehe auf und schleppe mich ins Zelt. Das Handy klebt inzwischen schweißnass in meiner Hand. Ich muss es behalten, vorerst.
Auch als ich einschlafe und mich wütende Träume überfallen, lasse ich es nicht los.
Als das Handy in meiner Hand zu vibrieren beginnt, zucke ich so sehr zusammen, dass ich einen Krampf in die rechte Wade bekomme.
In meinen chaotischen Träumen hörte ich es immer wieder klingeln, in den verschiedensten Melodien; manchmal sagte Papa, dass er das Pferd kauft, mal gab es nur Störgeräusche in der Leitung, mal wurde ich plötzlich taub und presste das Telefon
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