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Sturmsommer

Sturmsommer

Titel: Sturmsommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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mitfahren zu können. Eigentlich mit einem anderen Pferd, einem Leihpferd von hier. Aber jetzt…« Sie kann nicht weitersprechen und presst die Hand vor ihren Mund. Für Sekunden sagt sie nichts. Eine kleine Ewigkeit.
    »Meteor ist mein Glück. Wenn ich bei ihm bin, dann ist mein Leben in Ordnung. Dann hab ich auch was von dem Kuchen, von dem ihr esst. Vor allem ist es ihm egal, ob ich Geld habe oder nicht. Es ist ihm scheißegal. Aber jetzt wird es genau daran scheitern. Und der Schlachter zahlt gut. An ihm ist viel Fleisch«, sagt sie bitter.
    Mir ist schlecht. Die Übelkeit kriecht bis hoch in die Kehle.
    »Hast du denn außer ihm nichts, worauf du dich freuen kannst?«, fragt Marc vorsichtig. Tanja schweigt. Es kann nicht viel sein, denn sie muss lange überlegen.
    »Ich weiß nicht, woher ich sonst Kraft nehmen kann«, flüstert sie. »Ich brauche so viel Kraft zum Leben. Für meine Mutter. Meine kleine Schwester. Sie ist doch noch ein Baby. Eigentlich bin ich ihre Mama. Es geht schon nach der Schule los. Ich muss sie wickeln. Füttern. Meine Mutter arbeitet ja nachmittags bis spätabends. Dann, wenn Lara am stressigsten ist. Und jetzt hilft meine Großtante aus, sonst ginge es gar nicht, dass ich hier bin. Auch darum musste ich kämpfen. Ich war noch nie im Urlaub, weißt du?«
    Ich muss an diese beengte saubere Wohnung denken und an die brabbelnde Lara. An die frisch geputzten Reitstiefel in der Ecke. Unsere abendliche Rechenstunde in der Küche. Warum habe ich sie nie nach ihrem Leben gefragt?
    »Ich kann dir nicht helfen«, sagt Marc. Er ist wenigstens ehrlich. Er verspricht nicht irgendeinen Mist wie andere. »Ich kann dir nur zuhören. Aber, Tanja, bitte, geh jetzt ins Zelt. Morgen ist er noch da. Übermorgen auch. Und du musst gesund bleiben, wenn du die Zeit mit ihm verbringen willst.«
    »Nein. Ich bleibe hier. Ich bin gesund«, beharrt Tanja. Ihre Stimme hört sich anders an. Als habe sie starke Halsschmerzen.
    »Okay. Bleib hier. Ich wecke dich um sechs, dann bekommt es niemand mit.« Marc geht mit schweren Schritten davon. Der Mond ist wieder verschwunden. Ich nutze die Gelegenheit und ziehe mich leise zurück, auf die andere Seite des Stalls. Dort hangle mich durch eines der Boxenfenster.
    Der Nebel wabert über den Wiesen. An der Weide steht Marc und wartet auf mich. Also doch. Ich hätte mir eigentlich denken können, dass er mich bemerkt hat. Wie auch immer. Vielleicht hat er Augen im Hinterkopf. Keine Ahnung.
    »Ich hab dich gesucht«, sage ich. Das Sprechen fällt mir schwer. Der Kloß in meiner Kehle nimmt mir fast den Atem.
    Marc schaut mich lange an. Ein leichter Regen setzt ein. Das ist kein Sommer. Das ist Herbst. Marcs Blick gefällt mir nicht. Seine Augen sind keine blauen Seen mehr, in denen ich mich ausruhen kann.
    »Wann begreifst du es endlich?«, fragt er.
    Etwas läuft nass an meiner Wange herunter. Regen? Oder heule ich etwa?
    Er berührt kurz meinen Arm und geht zurück ins Zelt.
    Ich stehe noch eine Weile draußen und friere; warte darauf, dass das Gefühl in meinem Bauch endlich besser wird. Es wird nicht besser.
    Ich finde lange keinen Schlaf.

 
    NOTRUF
    Schon wieder liege ich wach. Bereits die dritte Nacht, nachdem ich Tanja entdeckt habe. Inzwischen wird getuschelt. Marc und ich haben niemandem etwas gesagt. Aber dass Tanja nachts aus ihrem Zelt verschwindet, hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Morgens sitzt sie stumm und alleine beim Frühstück, und wenn wir im Schritt reiten, fallen ihr manchmal die Augen zu.
    Ich wäre froh, ich könnte auch müde sein. Auch jetzt ist es sicher schon Mitternacht. Wir haben alle einen langen Ritt hinter uns. Das Wetter hat sich wieder gebessert und wir haben etliche Höhenmeter zurückgelegt. Die Böden werden steiniger und die Dörfer immer kleiner. Ab und zu rasten wir an Jugendherbergen oder Sportstätten, in denen wir uns duschen können. Viel Sinn macht das nicht mehr. Wir sind eine nach Pferd stinkende, verwilderte und zottelige Meute geworden. Wir brechen auf, wenn die Sonne aufgeht, um die kühlen Morgenstunden zu nutzen, und fallen in die Schlafsäcke, wenn es dunkel wird.
    Jedes Mal denke ich, dass ich sofort einschlafe. Und jedes Mal liege ich Stunden wach und wälze mich hin und her. Überlege, was Marc damit gemeint hat, als er mich fragte, wann ich es endlich begreifen würde. Ich weiß immer noch nicht, was ich begreifen soll, aber das Bild von Tanja und Meteor, wie sie aneinandergeschmiegt auf dem kalten Boden

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