Sturmwelten 01
konnte nur hoffen, dass ihr gemeinsamer Schatten vom Fort aus wie der einer Person wirken würde.
Er versuchte, die Augen zu öffnen, als sie ihn berührte.
»Sinao? Was tust du hier? Geh. Geh weg … schnell. Es ist … gefährlich.« Seine Stimme klang rau und so, als bereite ihm das Sprechen mit seinem zerschundenen Mund Schwierigkeiten.
»Das ist mir egal«, erwiderte sie fest. »Ich habe dir Essen mitgebracht. Und Wasser.«
»Wasser?«, flüsterte er, und sie hielt ihm die Flasche an die Lippen. Er trank gierig, verschluckte sich, hustete. Sinao streichelte vorsichtig seine Stirn.
»Ich will kein Essen«, murmelte er erschöpft. »Geh. Ich werde ihnen nichts sagen. Lass mich hier liegen, dann könnt ihr noch entkommen.«
»Wir können entkommen. Trink und iss, Schafsjunge. Ich lasse dich nicht sterben. Die Fremden werden kommen, und du wirst leben und mit uns fliehen.«
»Ich werde sterben, aber …«
»Lass den Unsinn«, unterbrach ihn Sinao wütend. »Dachtest du, dass ich dich einfach gehen lasse? Dachtest du, dass ich dir nicht folgen würde? Iss etwas und trink. Und denk nicht mehr an den Tod, Majagua. Überlebe, bis Hilfe kommt. Bei den Geistern und um meinetwillen. Überlebe!«
Sein Herz schlug langsam in seiner Brust. Sie konnte es unter ihren Fingern spüren. Er musste Schmerzen leiden. Die Schläge, die Fesseln, die Demütigung. Sie hörte in seiner Stimme, dass er mit dem Leben abgeschlossen hatte, doch sie würde ihn nicht gehen lassen; nicht kampflos.
»Warum, Sinao? Warum tust du das? Du … musst die anderen von der Insel bringen, wenn ich es nicht kann.«
Sie schwieg lange, bevor sie antwortete: »Wenn du es nicht kannst, kann es niemand. Und ich werde dich nicht verlassen, weil ich dich liebe. Und jetzt iss endlich.«
Mit der Rechten hielt sie ihm ein kleines Stück Brot vor den Mund, und sie hätte fast vor Erleichterung geweint, als er die aufgesprungenen Lippen öffnete und es annahm. Vorsichtig hielt sie ihm erneut die Flasche an die Lippen und ließ ihn trinken. Schon bald schlang er gierig das Brot hinunter und trank in langsamen Schlucken die Flasche aus.
Sinao blieb ruhig bei ihm liegen, ließ ihre Hände leicht auf seinem Körper ruhen, um ihm zu zeigen, dass sie bei ihm war. So lagen sie lange da, ohne zu reden, während ihnen das Meer verlockend von der Freiheit sang, die nun unerreichbarer denn je schien.
JAQUENTO
»Und? Haben sie den Köder geschluckt?«
Jaquento sah Pertiz an, als habe dieser ihn beleidigt. »Mitsamt Haken, Blinker und der Angelrute. Sie sind Feuer und Flamme für unser kleines Unternehmen.«
In der Runde, welche die Mannschaft um sie beide gebildet hatte, grinsten einige, doch Jaquento sah ebenso viele skeptische Mienen. Der Plan, die Thayns für ihre Zwecke zu nutzen, war nicht bei allen auf Zustimmung gestoßen. Aber sowohl Pertiz als auch Deguay hatten sich schließlich dafür entschieden, und so hatten sich auch die Zweifler dem Willen der Kapitäne gebeugt.
»Weniger habe ich von dir auch nicht erwartet, Freund Jaquento«, erklärte Deguay. »Wenn jemand von uns die nötige Gewandtheit der Zunge besitzt, um mit den Thayns eine Halse um einen Walbuckel zu fahren, dann du.«
»Es war nicht sehr schwierig«, wiegelte der junge Hiscadi ab. Immer wenn Deguay ihn derart lobte, glaubte er Anspielungen auf sein kleines Intermezzo während der Kapitänswahl herauszuhören. »Ihr Kapitän ist krank, und die Offiziere scheinen mir ein wenig zu begierig auf Ruhm zu sein.«
»Vielleicht wünschen sie sich einfach, diese Chance zu nutzen? Ich meine, wenn der Kapitän außer Gefecht ist, dann wäre ein Erfolg ihr Verdienst.«
»Möglich«, gestand Jaquento, der für einen Moment ein schlechtes Gewissen wegen Roxane hatte. Sie ist selbst schuld, wenn sie mir vertraut. Sie muss wissen, dass wir Halsabschneider sind, die man besser nicht in seinem Rücken duldet. Außerdem, wenn sie dieses Prisengeld nicht erhält, dann das nächste. Es ist ja nicht so, als wolle ich ihr Schiff stehlen – sondern nur diese merkwürdige Fregatte der Compagnie.
»Dann wollen wir mal dafür sorgen, dass die Karrieren der Thayns einen hübschen Knick erhalten«, rief Deguay, und diesmal grinsten alle. Jaquento kniff die Augen zusammen, als habe er einen kurzen, heftigen Schmerz verspürt; dann war es ihm gelungen, sein nagendes Gewissen zurückzudrängen.
»Ich habe folgenden Plan«, fuhr Deguay fort. »Die Todsünde wird sich unter der Deckung der Thayns bis zum schwarzen
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