Sturmwelten 01
Herrn auf sich spürten.
Aber die eintönige Arbeit konnte ihn nicht ablenken, und er fragte sich den ganzen Tag, was wohl mit dem Alten passieren würde. Einmal sah er Aymeros Augen, in denen eine Mischung aus Dankbarkeit und Angst lag. Doch er beachtete den Jungen nicht weiter, denn seine eigenen Gedanken bereiteten ihm genug Sorgen. Obwohl er es gar nicht wissen wollte, kehrten sie immer wieder zurück zu der Bestrafung, deren Zeuge er am Abend werden würde. Es dauert lange, und sie zappeln, und ihre Gesichter werden rot und die Augen groß . Das hatte Sinao gesagt, und ihre Worte ließen ihn nun nicht mehr los. Ebenso wie ihr letzter Satz zu ihm, bevor sie ihn verlassen hatte: dann bist du bereits tot. Er wollte ihren Worten nicht glauben, er wollte etwas tun, alles in ihm drängte ihn dazu, zu handeln, doch er richtete sich nicht auf. Er stand nicht aufrecht, und er griff auch keinen der Aufseher an. Ich, Majagua, Sohn des Cacique von Guanquen, stecke lediglich einen Setzling nach dem anderen in die Erde. Wenn ich so weitermache, dann werden sie auch mich bald in die Erde stecken, dachte er finster .
Seine Schritte waren schwer, als man sie hinauf zum Fort führte. Die Minenarbeiter waren schon dort, ebenso die Sklaven aus der Festung. Die Soldaten hatten ihre Uniformen an, trugen ihre Musketen, und von den Mauern des Forts wiesen drei Kanonenmündungen auf die versammelte Schar Sklaven. Sie wurden ein Stück weit von der Mauer aufgestellt, eingekreist von den Soldaten und Aufsehern. Zwei von ihnen hatten den alten Mann in ihre Mitte genommen, dem sie nicht einmal seine spärliche Kleidung gelassen hatten. Auf seiner Haut zeichneten sich die Peitschenschläge als blutige Striemen ab, und seine Augen waren groß und geweitet, wie weiße Löcher in seinem dunklen Gesicht.
»Dieser Mann hier hat gestohlen. Er hat die Compagnie bestohlen. Er hat euch bestohlen. Er hat euer Essen genommen und für sich allein behalten wollen. Er ist die niederste aller Kreaturen: ein Dieb!«, rief Tangye, der seinen Hut in den Nacken geschoben hatte, mit durchdringender Stimme. Du bist die niederste aller Kreaturen, dachte Majagua voller Abscheu, während einige Paranao die Rede übersetzten. Majaguas Augen suchten das Mädchen, Sinao, und er fand sie bei den Arbeitern, die aus der Festung gekommen waren. Als sie ihn bemerkte, stellte sie sich unauffällig neben Majagua. Ihre schwarzen Augen waren voller Trauer.
»Für sein schändliches Verbrechen wird er gehängt werden!«, verkündete Tangye soeben.
Der Alte zuckte zusammen, öffnete den Mund, doch bevor er etwas sagen konnte, schlug ihn einer der Aufseher mit dem Handrücken. Von den Zinnen des Forts wurde ein Seil hinabgeworfen, erst ein Ende, dann eine Schlaufe am anderen, sodass es über einem der Balken hing. Mit geübten Handgriffen legte Tangye selbst dem Alten die Schlinge um den Hals und ergriff dann das andere Ende.
Alles in Majaguas Geist schrie vor Entsetzen. Er wollte etwas tun, dem Alten helfen, Tangye schlagen – doch sein Körper war wie gelähmt; er konnte nur hilflos zusehen, wie zwei Aufseher Tangye halfen, das Seil packten und daran zogen. Der alte Paranao wurde emporgehoben, seine Füße wirbelten kurz Staub auf, dann hing er in der Luft. Er zuckte, seine nackten Beine schlugen gegen die Mauer. Die Spannung löste sich aus Majaguas Körper, wich in einem Atemzug. Dann bin ich eben schon tot.
Der junge Paranao beugte sich nach vorn, wollte loslaufen und Tangye anspringen. Nichts hielt ihn mehr, weder Angst noch Fragen, weder Trauer noch Zorn – er war frei. Doch da spürte er eine leichte Berührung an seinem Arm. Verwirrt schaute er hinab und sah Sinaos schmale Hand, die ihn umfasste.
»Nicht«, flüsterte sie. »Bitte nicht.«
Ihre Stimme übertönte kaum das Schlagen seines Herzens und das Rauschen in seinen Ohren, doch ihr Flehen riss ihn aus seiner Trance. Alle Gefühle strömten in ihn zurück, spülten seine überirdische Ruhe fort, schlugen mit unwiderstehlicher Macht über ihm zusammen. Er hob den Blick und sah den Alten um sein Leben kämpfen, um Atem ringen, den er nie wieder bekommen würde. In den Zügen des Erhängten standen so viel Angst und Verzweiflung, dass es Majagua Tränen in die Augen trieb. Aber er konnte sich auch nicht abwenden, so wenig wie Sinao, deren Finger sich nun in seine Haut bohrten. Er sah nur undeutlich, wie die Bewegungen des Mannes erlahmten und schließlich ganz aufhörten.
Ein endloser Schmerz ergriff
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