Sturmwelten 01
die Bewegung ließ sie vor Schmerzen aufstöhnen. Unbeholfen legte ihr Roxane die Hand auf die Schulter.
»Lass nur«, sagte sie und kniete neben der Koje nieder, um das Büchlein aufzuheben.
» Pastridges Seefahrt . Exzellentes Buch. Daraus kann man alles lernen, was man über Navigation wissen muss.«
»Ja, Thay.«
Nachdenklich betrachtete Roxane den schmalen Band. So viel Wissen in so konzentrierter Form. Es kostete sie einige Überwindung, Tola wieder in die Augen zu sehen.
»Ich habe dir ein neues Buch mitgebracht. Über die großen Seeschlachten des letzten Jahrhunderts«, erklärte sie und zeigte dem Mädchen das Buch. »Schau, hier gibt es zu jedem Gefecht Diagramme und Zeichnungen, welche die Strategien und Taktiken der Flotten erläutern.« Sie versuchte, das Mädchen aufmunternd anzulächeln. »Einiges ist natürlich ein bisschen altmodisch, aber gewisse Prinzipien ändern sich nie.«
Dankbar nickte Tola und nahm das Buch in die Hand. Bei der Berührung erschrak Roxane ob der heißen, feuchten Haut des Mädchens.
»Ich komme bald wieder«, versprach sie leise und ging aus der Enge des Lazaretts in das nicht weniger bedrückende Zwielicht des Geschützdecks. Sie musste tief durchatmen und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Scham schnürte ihr die Kehle zu, doch sie fing sich; vor den Augen der Mannschaft musste sie stark bleiben.
Der Weg zum Heck wurde zum Spießrutenlauf, und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass ihr jemand einen Grund zum Handeln gab. Eine offensichtliche Missachtung ihres Rangs, ein falsches Wort, eine beleidigende Geste. Aber noch wagte es niemand, diese Grenze zu überschreiten. Zu tief saßen wohl die Lektionen der Flotte, mit denen den Seeleuten immer wieder eingebläut wurde, dass Ungehorsam und mangelnde Disziplin immer den Tod als Strafe fanden.
Endlich erreichte sie die Offiziersmesse, wo sie auch die Schiffsärztin Tabard antraf, die mit geschwungenen Lettern etwas in ein kleines Buch eintrug. Die Ärztin hatte eine Brille auf der Nase, die sie weit älter wirken ließ, als sie war.
»Thay, wie steht es um die Gesundheit von Fähnrich Levman?«
Überrascht blickte die Ärztin auf und legte den Stift beiseite. Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie antwortete. In diesen wenigen Sekunden schienen die dünnen Wände der Messe näher zu rücken und Roxane erdrücken zu wollen. Du bist nur müde , sagte sich die junge Offizierin, du brauchst Schlaf. Doch eigentlich fürchtete sie, dass sie dem Druck nicht mehr lange standhalten konnte; weder dem des Kapitäns und der Mannschaft noch ihrem eigenen.
»Sie wird gezeichnet bleiben, aber sie hat gute Chancen, es zu überstehen. Der Maestre und ich haben uns gleich um die Wunden gekümmert. Natürlich sind auch Grofertons Befähigung Grenzen gesetzt, ebenso wie meinem Können, doch wir haben alles getan, was in unserer Macht stand.«
»Das ist gut«, erwiderte Roxane tonlos. Jetzt wollte sie sich nur noch dem Schlaf hingeben und dabei alles vergessen, was um sie herum geschah.
»Sie sollten sich diese Last nicht aufbürden. Es war nicht Ihr Fehler«, erklärte Tabard resolut und nahm den Stift wieder in die Hand. Von einer plötzlichen Eingebung gepackt, lehnte sich Roxane nach vorn und stützte sich auf dem Tisch ab. Sie sprach leise, aber schnell: »Die Bestrafung war unangemessen. Kapitän Harfells Verhalten ist über alle Maßen ungewöhnlich. Er gefährdet die Sicherheit des Schiffs!«
Langsam nahm Tabard die Brille ab und kniff mit den Fingern den Nasenrücken zusammen.
»Leutnant, achten Sie auf Ihre Worte. Ist Ihnen nicht bewusst, wie gefährlich solche Äußerungen sind?«
»Hören Sie, Doktor, wenn Sie eine Anomalie im Geisteszustand des Kapitäns feststellen, dann könnte das Kommando zumindest zeitweise auf den Ersten Offizier übertragen werden, das stimmt doch, oder?«
»Ich kann nichts feststellen, was nicht vorhanden ist«, entgegnete die Ärztin fest.
»Wollen Sie behaupten, dass diese Bestrafung nicht jenseits aller Vernunft war? Dass das Verhalten des Kapitäns nicht im höchsten Maß erratisch ist?«
Jetzt beugte sich die Ärztin vor und sah Roxane scharf an. »Wenn ich aufgrund der Prügel …«
»Prügel? Die Anzahl der Schläge übertrifft jede Norm!«
»… aufgrund der Prügelstrafe eine Befehlsunfähigkeit feststelle, dann wird dies hier meine letzte Fahrt gewesen sein. Jede Absetzung eines Kapitäns führt zu einem Kriegsgericht, und Sie wollen mir doch nicht erzählen,
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