Sturmwelten 03. Jenseits der Drachenküste
Munitionskisten aus ihrem Versteck in einem alten Keller holten, tauchte plötzlich ein Trupp Soldaten auf. Vielleicht war das Zufall, vielleicht hatte es auch einen Verräter gegeben, ich weiß es nicht. Jedenfalls schafften wir es gerade noch so, uns aus dem Staub zu machen. Die Wachen verfolgten uns natürlich. Mit den verfluchten Kisten hatten wir keine Chance zu entkommen, also habe ich die anderen mit der Munition losgeschickt und mich selbst erboten, die Wachen abzulenken. Das schien mir recht leicht zu sein. Ich kannte Sargona wie meine Westentasche; ich machte mir keine Sorgen darum, dass ich ihnen nicht entwischen könnte.
Tatsächlich konnte ich die Wachen schon nach ziemlich kurzer Zeit abschütteln. Alle, bis auf einen Mann, der mir ärgerlicherweise einfach auf den Fersen blieb. Ich überlegte mir schon, mich ihm einfach zu stellen und die Sache mit ihm auszufechten, aber ein Duell mit einem géronaischen Soldaten hätte vermutlich eine Menge unerwünschter Aufmerksamkeit nach sich gezogen. Also versuchte ich schließlich, über die Dächer zu entkommen. Ich hangelte mich an einer Hauswand empor und lief von dem Dach aus immer weiter. Die meisten Häuser Sargonas sind so nah aneinandergebaut, dass es keine große Sache ist, die Kluft zwischen ihnen zu überspringen, wenn es überhaupt eine gibt. Schließlich landete ich auf dem Dach des Gouverneurspalastes, einem der höchsten Gebäude von Sargona, und noch immer war dieser Mann wie ein Schatten hinter mir her. Von hier aus sah der nächste Sprung verdammt weit aus, und bis
zum Boden konnte ich es auf keinen Fall schaffen. Also blieb mir wohl nichts anderes übrig, als doch noch mit meinem Verfolger zu kämpfen.
Ich suchte mir rasch eine Deckung und wartete, bis er zu mir aufgeholt hatte. Mein Atem rasselte so laut, dass ich glaubte, er müsse mich auf jeden Fall hören. Doch er rannte auf die Brüstung zu, blieb dort stehen und sah sich suchend um. Ich sprang aus meiner Deckung, und er fuhr zu mir herum. Dabei verlor er den Halt, und seine Füße rutschten ab.
Als er sich zu mir umwandte, in der Sekunde, bevor er fiel, konnte ich sein Gesicht sehen. Es war Chavias, mein Bruder, Capitane der Garde. Ich sprang auf ihn zu, aber ich war zu langsam; ich konnte ihn nicht mehr festhalten.
Und auch er hat mich erkannt, da bin ich sicher. Sein letzter Blick, bevor er in den Tod stürzte, fiel auf mich.«
Roxane hatte nach Jaquentos Hand gegriffen, während er sprach. Sie streichelte vorsichtig mit ihren Fingern über die seinen.
»Was geschah dann?«, fragte sie leise.
»Mein Vater war verzweifelt, als ich nach Hause kam und ihm die Nachricht überbrachte. Ich … ich musste es selbst tun oder den letzten Funken Ehre verlieren, den ich noch in mir hatte.« Er sah Roxane an, suchte Verständnis in ihrem Blick. »Erst dachte ich, er würde mich eigenhändig umbringen, und es wäre mir gerecht erschienen. Dann glaubte ich, er würde mich zumindest den Wachen übergeben. Doch er hat wohl beides nicht über sich gebracht. ›Nicht euch beide in einer einzigen Nacht‹, sagte er, ein gebrochener Mann. Schließlich gab er mir Geld und schickte mich fort, unter der Bedingung, dass ich nie mehr nach Hiscadi zurückkehre. Er versprach mir, überall zu verbreiten, dass ich ebenso tot sei wie Chavias. – Und so fand ich mich an Bord des nächsten Schiffes wieder, das Kurs auf die Sturmwelt nahm.«
»Du bist heute nicht mehr derselbe Mann, der du damals warst«, sagte Roxane mit fester Stimme in das Schweigen hinein, das sich nach seinem Bericht zwischen ihnen ausbreitete. »Was immer du in einem früheren Leben getan hast, du bist heute ein anderer. Ich weiß das, denn ich kenne dich.«
Mittlerweile war es vollständig dunkel im Raum geworden, und Jaquento ahnte Roxane mehr, als dass er sie sah. Er legte die Arme um sie und zog sie an sich.
»Am Ende bist du vielleicht der einzige Mensch, der das sagen kann. Du weißt nicht, wie viel mir das bedeutet. Ich liebe dich, Roxane.«
Sie berührte mit den Fingern seine Lippen, fuhr die Linien seines Mundes vorsichtig nach. Dann ließ sie ihre Hand sinken und küsste ihn zärtlich in der Dunkelheit. In dem Moment wurde ihm alles gleich, dieser Raum, seine Vergangenheit und ihre Zukunft, und nur noch sie war wichtig. Jaquento erwiderte den Kuss mit seiner ganzen Liebe. Alle Anspannung fiel von ihm ab, und endlich forderte nach den Strapazen dieses Verhörtags die Müdigkeit ihren Tribut.
Als Jaquento wieder aufwachte,
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