Sturmwelten 03. Jenseits der Drachenküste
Bilder ihres Lebens, dessen Bahn so ungerade und unvorhersehbar gewesen war. Sie wollte sich einreden, dass sie sich schon in schlimmeren Situationen befunden hatte, schon hilfloser gewesen war, aber es wollte ihr nicht gelingen. Denn tief in sich spürte sie immer noch den endlosen Sog, der von der Kiste im Herzen des Schiffes ausging und ihr die Kraft und die Zuversicht nahm. Ich bin unverändert in der Nähe der Ladung.
Die Fesseln waren nicht fest, aber sie waren um ihren gesamten Körper geschlungen, fühlten sich an wie lange, breite Stoffbahnen, die zwar minimal nachgaben, aber sie dennoch fast gänzlich zur Bewegungslosigkeit verdammten.
Der harte Boden war unbequem, und hin und wieder rührte sich Tareisa ein wenig, um die Position zu ändern und ihren geschundenen Gliedern etwas Erleichterung zu verschaffen.
Nur Geruchsinn und Gehör teilten ihr mit, dass sie sich noch an Bord eines Schiffes befand, und sie vermutete, dass es die Todsünde war, auch wenn sie sich keineswegs sicher sein konnte; zu oft war sie in einen unruhigen Schlaf gedriftet, und es war sicherlich möglich, dass man sie bewegt hatte, ohne dass sie es bemerkt hätte. Immerhin war sie auch vollkommen überraschend im Schlaf gefangen gesetzt worden.
Es roch nach Meer, nach Salzwasser, nach Harz und Teer, und das Holz des Schiffs knarrte und ächzte. Manchmal waren Schritte über ihr zu hören und ganz selten auch leise Stimmen, die stets aus derselben Richtung kamen. Tareisa versuchte, sich aus diesen vagen Sinneseindrücken ein Bild zu machen, zu erraten, wo an Bord man sie gefangen hielt. Die Grübelei, wer sie gefangen hielt, hatte sie längst aufgegeben. Sie selbst hatte sich genügend Feinde gemacht, als Geliebte am Hof des törichten Königs von Géronay ebenso wie später in der Sturmwelt. Hinzu kamen die Feinde ihres Meisters. Auch ihr Wissen über ihre Häscher war zu gering, als dass es sinnvoll gewesen wäre, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Nein, dann lieber versuchen, etwas aus meiner Umgebung zu lernen, dacht sie. Die Brig wird es sein, im Vorschiff.
Etwas berührte sie an der Wange, direkt unterhalb des Auges. Beinahe hätte sie geschrien, doch es kam nur ein dumpfes Stöhnen aus ihrem Mund. Es war eine sachte Berührung, ein kleiner Punkt nur, wo der Stoff der Haube an ihre Haut stieß. Schreckensvisionen stiegen ungebeten in der Maestra auf, von Folterern und ihren Werkzeugen und von kleinen Nagern, die auf der Suche nach Fleisch waren. Doch die Berührung endete so abrupt, wie sie begonnen hatte.
Dann wurde es heller. Licht drang durch Fäden des Stoffs, nicht genug, um wirklich etwas zu erkennen, aber ausreichend,
um Tareisas Herz vor Freude schneller schlagen zu lassen. Holz knarrte, Schritte ertönten direkt neben ihr, ein unverständliches Wort wurde gesprochen, dann fühlte sie sich an Schultern und Knöcheln gepackt und emporgehoben. Eine Welle von Übelkeit durchlief sie, als ihr Gehirn versuchte, Ziel und Richtung der Bewegung zu verstehen, und einen Moment lang wusste sie nicht, wo oben und unten war. Dann wurde sie davongetragen, und sie merkte, dass ihr Gesicht nach oben gerichtet war und kräftige Hände sie scheinbar so mühelos festhielten, als wäre sie ein Sack Getreide.
»Wohin bringt ihr mich?«, fragte sie mit rauer Stimme.
Keine Antwort.
Sie stellte erneut die Frage, diesmal auf Thaynrisch. Wieder keine Antwort. Drängend wiederholte die Maestra die Frage, aber ihr antworteten nur Schweigen und Atemgeräusche. Sie versuchte es in allen fünf Sprachen, die sie beherrschte, aber das Resultat blieb immer das Gleiche.
Auch ihre Versuche, allein durch ihr Gehör zu erraten, wohin man sie trug, brachten sie nicht weiter. Was, wenn diese Männer meine Mörder sind und mich nur aufgehoben haben, um mich ins Meer zu werfen?
Panik stieg in ihr auf, doch sie bekämpfte sie, atmete langsam, konzentrierte sich darauf, ruhig zu bleiben und die Angst aus ihrem Geist zu vertreiben.
Die Geräusche des Schiffs drangen gedämpfter an ihre Ohren, als man sie durch eine Tür trug, die hinter ihr wieder zufiel. Sie fühlte sich gedreht, die Füße wurden abgesenkt, dann saß sie mehr schlecht als recht in einem Stuhl, dessen Lehne gegen ihren Rücken drückte.
Als die Haube von ihrem Kopf gezogen wurde, blinzelte sie in das Licht, das ihr grell in die Augen stach. Doch schon nach wenigen Sekunden hatte sie sich daran gewöhnt, und
ein erster Blick verriet ihr, dass es Deguays Kajüte war, in der sie sich
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