Sturmwelten 03. Jenseits der Drachenküste
auf sich gestellt war. Von Unbekannten entführt, an einer fremden Küste gestrandet, ohne Hilfe und Rat. Der Meister, der sie so viele Jahre lang gelehrt und geführt hatte, war fort.
Sie wusste, dass sie Angst haben, dass sie sich einsam fühlen sollte, doch stattdessen war in ihr nur eine betäubende Leere und ganz am Rande ein Gefühl der Erleichterung. Die Verantwortung fiel von ihr ab, das Ausgeliefertsein angesichts der Macht des alten Mannes war beendet. Seine Kontrolle, bislang ein bestimmender Part ihres Lebens, war fort, und damit die immerwährende Anspannung, die daraus folgte.
Als Tareisa diesmal zu Boden sank, drängte sie nichts, dem Schlaf zu widerstehen, und sie schloss die Augen. Noch bevor sie drei Atemzüge getan hatte, glitt sie in das Reich der Träume.
Als sie wieder erwachte, spannte sich über ihr der Sternenhimmel. Lange Zeit lag sie einfach nur auf dem Rücken, in der Mulde vor dem Wind geschützt, der über den Strand wehte, und blickte zum Himmel empor. Sternenkunde hatte sie schon früh interessiert, während ihr der alte Mann die Geheimnisse des Universums erklärte. Und als sie nun den Stand der Gestirne betrachtete, wurde ihr langsam klar, wo sie sich befinden musste.
Die Erkenntnis gab ihr neue Kraft, und sie erhob sich, obwohl dies die Drachenküste war, ein abgelegener und völlig unbesiedelter Landstrich.
»Ich weiß, wo ich bin«, erklärte sie sich selbst, einfach, um eine menschliche Stimme zu hören. »Jetzt muss ich nur noch herausfinden, wo ich hin will.«
Sie wusste, welche Möglichkeiten sie hatte. Sie konnte entweder versuchen, nach Corbane zurückzukehren, oder sie konnte der Todsünde folgen, die wohl in die mysteriösen Länder jenseits der Drachenküste segelte.
Langsam schritt Tareisa zum Meer, das unermüdlich gegen das Land anbrandete. Sie sah nach links, wo ihre Heimat liegen musste, eine unbekannte Wegstrecke entfernt. Dann nach rechts, wo das Meer bis zu den Handelsposten der Géronaee reichen musste, wenige Punkte auf einer gewaltigen, weißen Karte, die sie sich ins Gedächtnis rief. Sie wusste, was der alte Mann von ihr verlangen würde. Für ihn hatte der Besitz der Ladung Vorrang vor allen anderen Überlegungen, und dies war auch der Weg, den er für sie wählen würde.
Ihr Blick wanderte zurück. Sie wusste nicht, wie lange sie gefangen gewesen und wie weit die Todsünde schon gefahren
war. Der alte Mann antwortete ihr nicht, was immer das zu bedeuten haben mochte. Tareisa erinnerte sich an Corbane, an das Leben, das sie an der Seite des Königs von Géronay geführt hatte. Der Gedanke an Heimkehr war verlockend, auch wenn sich dort mittlerweile vieles verändert haben mochte. Sich den Wünschen ihres Lehrmeisters zu widersetzen wäre ihr noch vor wenigen Tagen niemals in den Sinn gekommen, aber hier, allein unter dem endlosen Himmel, war der alte Mann ihr wirklich fern und sie nur sich selbst verpflichtet.
Als sie den ersten Schritt auf dem Weg fort von Corbane machte, überraschte es sie selbst. Erst als sie erkannte, dass sie nicht für den alten Mann ging, sondern weil sie es selbst wollte, musste sie lächeln. Sie tat es nicht wegen der Fracht, für ihren Lehrmeister oder um der Macht willen, mit der sie immer gelockt worden war. Sie tat es für Deguay, für sich und weil sie ahnte, dass sie aus diesem Spiel nicht aussteigen konnte.
JAQUENTO
Schweigend standen Bihrâd und Jaquento am Bug der Siorys . Seit der Ausguck den Hafen ausgerufen hatte, waren so gut wie alle Besatzungsmitglieder, die nicht irgendwo Wache hatten, an Deck gekommen. Man konnte ihre Aufregung spüren. Ein Hafen bedeutete Landgang und eine Möglichkeit, endlich die Heuer auszugeben.
Jaquento hoffte jedoch, dass sie sich vor allem ihrem Ziel näherten. Seit sie die letzten Fischerdörfer hinter sich gelassen hatten, hatte es keine Möglichkeit gegeben, den Kurs der Todsünde zu verifizieren. Seine Vermutung, dass ihre Beute die Drachenküste passiert hatte, erschien ihm immer noch richtig, aber manchmal mischten sich doch Zweifel in seine Zuversicht.
»Kannst du etwas spüren?«
Bihrâd schloss die Augen und konzentrierte sich. Nach wenigen Momenten schüttelte er den Kopf.
»Verdammt. Hoffentlich liegen wir richtig. Sonst sind wir Hunderte von Meilen ins Nichts gefahren, und wer auch immer die Todsünde gekapert hat, lacht sich ins Fäustchen.«
»Die Kapitänin hat gesagt, dass die letzten Fischer sicher waren, dass die Todsünde an ihnen vorbeigekommen und
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