Sturmwind der Liebe
dem Mund streicheln. Das möchtest du doch, nicht wahr?«
»Nein, Alec, das kannst du nicht tun – denn … O bitte, bitte …« Sie zitterte.
»Es ist nicht so, daß ich …« Und dann vergaß Alec, was er hatte sagen wollen, denn in diesem Augenblick hörte er Moses rufen: »O mein Gott! Miß Genny! Baron! O Gott, kommen Sie schnell! Oh …«
Alec hob Genny von seinem Schoß. »Schnell, Genny!« Er war schon aus dem Bett und zwängte sich in seinen Frisiermantel. Hinter sich hörte er Genny. Sie zog sich das Nachthemd herunter und knöpfte es in fliegender Eile zu.
Ein lautes Klopfen an der Schlafzimmertür. Dann stieß Moses die Tür auf und kam hereingestürzt. »Schnell, Sir! Es ist der Herr! O Gott, Miß Genny …«
Alec rannte an ihm vorbei den Flur entlang zum Elternschlafzimmer. Genny folgte ihm auf den Fersen. Alec ging hinein. Neben dem Bett brannte eine Kerze. Auf den ersten Blick sah Alec, daß James Paxton tot war.
Er stand neben ihm und spürte unvermittelt tiefen Schmerz über James’ Dahinscheiden. Die Augen des Toten waren geschlossen. Sein Ausdruck war friedlich. Er war im Schlaf gestorben, ein leichter Tod. Alec beugte sich über ihn und legte ihm die Fingerspitzen an den Hals. Natürlich war nichts mehr zu spüren.
»Papa?«
»Er ist verschieden, Genny. Es tut mir so leid.«
Moses war ihnen nachgegangen. »Ich habe noch einmal nach ihm gesehen, Sir. Normalerweise tue ich das nicht. Aber irgend etwas hat mich beunruhigt. Deshalb ging ich nachschauen. Er war heute abend so erschöpft. Das hat mich beunruhigt. Als ich hereinkam, war er schon tot.«
Genny setzte sich neben ihren Vater, nahm seine Hand und führte sie an ihre Lippen.
»Es war das Herz, Genny. Es war bestimmt das Herz. Er ist im Schlaf gestorben, ein leichter Tod.«
»Ja«, sagte sie.
Alec fuhr herum. In der Tür stand Hallie im Nachthemd und mit bloßen Füßen, ihr Schiffsmodell der Schonerbark unterm Arm.
»Einen Augenblick, Hallie. Moses, lassen Sie seinen Arzt holen! Er wird wissen, was zu tun ist.«
»Ja, Sir!«
Alec nahm seine Tochter auf den Arm und trug sie aus dem Zimmer des Toten.
Ganz leise sagte Genny: »Es tut mir so leid, Papa, es tut mir schrecklich leid. Alec sagt, du hast einen leichten Tod gehabt. Hoffentlich war es so. Ich liebe dich sehr. Jetzt habe ich niemand mehr. Ich war nicht einmal bei dir, als du gestorben bist. Ich lag auf dem Schoß eines Mannes, seine Finger waren in mir, und du mußtest allein sterben.«
Sie sprach leise und undeutlich, aber Alec hörte jedes Wort. Er sah, wie Genny den Kopf auf James’ Brust legte. Sie weinte nicht, sie lag nur so da.
Da ließ er sie allein.
An James Paxtons Beerdigung nahmen mehr als hundert Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung von Baltimore teil, von arbeitslosen Seeleuten bis zu den Gwenns, den Warfields und den Winchesters. Sogar Laura Salmon war gekommen. Es war kalt, und es nieselte. Kein bißchen Sonne und Wärme. Alec stand neben Genny und stützte ihren Ellbogen, obwohl es nicht nötig war. Sie rührte sich nicht, starrte nur nach vorn, gerade aufgerichtet. Sie schien nichts um sich her wahrzunehmen.
Alec hatte Hallie nicht gestattet mitzukommen. Sie hatte nur begriffen, daß Mr. Paxton jetzt im Himmel war. Wie ihre Mama. Sie war mit Mrs. Swindel im Haus der Paxtons zurückgeblieben. Auch in dieser Hinsicht muß ich eine Entscheidung treffen, dachte Alec. Dann zwang er sich, dem Reverend Murray, dem Pastor der St. Paul-Episkopalkirche, zuzuhören. Er war ein hagerer Mann, das Gesicht von den vielen, vielen Jahren unter einer unerbittlichen Sonne von Falten durchzogen. Er sprach gut, und seine Trauerrede rührte ans Herz. Er habe James Paxton von Kindesbeinen an gekannt, sagte er in seiner bedächtigen Art mit wohlklingender Stimme. Damals waren sie gemeinsam zum Fischen zum North Point gegangen. Er erinnerte an James’ Anteil an der Entwicklung von Baltimore, an den Bau seines ersten Baltimore-Klippers, der
Galilei
im Jahre 1785, an sein tapferes Verhalten im September 1814 in der Schlacht bei Baltimore gegen die Briten. Er hatte die Kanonade auf Fort McHenry miterlebt, wo er die Männer aufgefordert hatte, Ruhe zu bewahren. Er sei ein stiller Held gewesen, und er, Reverend Murray, sei stolz darauf, ihn gekannt zu haben. Er hinterlasse seine gute Tochter Eugenia Paxton. Amen.
Während der Trauerrede rührte Genny sich nicht. Alec hätte gern etwas getan, um ihr zu zeigen, daß er an sie dachte und mit ihr fühlte. Irgend
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