Sturmwind der Liebe
etwas. Dann sah er, daß Laura Salmon zu ihm herüberschaute, und quälte sich ein kurzes Lächeln ab.
Nach der Trauerfeier nahm Genny die Beileidsbezeugungen von vielen Dutzend Menschen entgegen, und Alec stand neben ihr. Und er erinnerte sich an den längst vergangenen Tag vor fünf Jahren, als er im Schockzustand das Beileid der anderen entgegengenommen hatte. Und er fragte sich, welchen Sinn das alles habe.
Er brachte Genny nach Hause und stand an ihrer Seite, als die Trauergäste eintrafen, um zu essen, sich mit gedämpfter Stimme zu unterhalten und endlos ihr Bedauern über Mr. Paxtons Tod zu wiederholen. Sie war ruhig und hatte sich vollkommen in der Gewalt. Sie war eigentlich gar nicht da. Er fragte sich, ob er sich bei Nestas Begräbnis ebenso verhalten hatte.
Merkwürdigerweise war es Mrs. Swindel, die die Zügel in die Hand genommen hatte. Lannie hatte so viele Speisen zubereitet, daß man halb Baltimore davon hätte beköstigen können. Als die letzten Gäste Abschied nahmen, war es später Nachmittag.
Nur Mr. Daniel Raymond ging nicht.
»Wenn es Ihnen recht ist, Genny, würde ich Ihnen gern den letzten Willen Ihres Vaters vorlesen.«
Genny nickte nur, machte kehrt und ging auf die kleine Bibliothek an der Ostseite des Hauses zu.
»Würden Sie auch mitkommen, my Lord?«
»Mich betrifft das doch gar nicht, Mr. Raymond.«
»Doch, my Lord. Sehen Sie …«
»Nun gut. Sagen Sie, was Sie wollen, aber sagen Sie es im Beisein von Miß Paxton!«
Genny sah, wie Daniel Raymond, gefolgt von Alec, in die Bibliothek kam. Was suchte Alec hier? Ach, es war ja jetzt gleichgültig. Alles schien ihr gleichgültig zu sein.
»Miß Paxton«, sagte Raymond, als alle Platz genommen hatten, »Ihr Vater hat ein neues Testament gemacht.«
»Wie bitte?«
»Ein neues Testament, Miß Paxton. Vor fünf Tagen.« »Ich verstehe nicht …«
Alec unterbrach: »Sagen Sie uns, was drinsteht!«
Warum ist er so ärgerlich? dachte Genny.
»Sehr gut, my Lord. Zunächst sind da die Legate an die Dienerschaft. Das höchste beträgt fünfhundert Dollar und geht an Moses. Dreihundert Dollar bekommt Mrs. Limmer. Wie Sie wissen, Miß Paxton, ist Moses ein Sklave. Mr. Paxton hat festgesetzt, daß nach seinem Tode Moses freigelassen wird. Ihr Vater nahm an, daß Moses aber seine Stellung im Haushalt weiter ausüben wird.« Hier legte Mr. Raymond eine Pause ein. Alec hatte ein ungutes Gefühl. Und er ahnte, ja, er wußte schon, was nun kommen würde. Der verdammte James Paxton!
»Miß Paxton, Ihr Vater legte größten Wert darauf, daß Sie einsehen, alles, was er verfügte, geschah in Ihrem Interesse. Sie sind jetzt alleinstehend. Sie haben keine Angehörigen und keinen männlichen Schutz. Er hat Sie geliebt, Ma’am, und er wollte Ihnen eine sorgenfreie Zukunft sichern.«
»Ja«, sagte Genny und mehr nicht.
Lieber Gott, dachte Alec und sah ihr in das bleiche Gesicht, das klingt, als interessiere sie sich nicht im geringsten dafür.
Mr. Raymond räusperte sich. »Mr. James Paxton überschreibt die Paxton-Werft an Alec Carrick, Baron Sherard, falls er Sie innerhalb von dreißig Tagen nach seinem, Mr. Paxtons Tod, heiratet. Wenn Baron Sherard oder Sie, Miß Paxton, eine Heirat ablehnen, ist die Werft zu verkaufen, gleichviel an wen, nur nicht an Baron Sherard, und Sie erhalten den Kaufpreis.«
Genny sah ihn nur schweigend an.
»Sehen Sie, Miß Paxton«, fuhr Mr. Raymond fort, und sein Tonfall klang jetzt recht verzweifelt, »Ihr Vater wußte, daß es Ihnen unmöglich sein würde, die Werft weiterhin zu leiten. Er wußte, daß Sie in diesem Falle alles einbüßen würden. Davor wollte er Sie bewahren. Er wollte nicht, daß Sie in Armut enden.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Raymond. Ich verstehe vollkommen.« Damit erhob sich Genny und reichte dem unglücklichen Anwalt die Hand.
»Haben Sie noch Fragen, Miß Paxton?«
Sie schüttelte den Kopf und verließ das Zimmer ohne einen Blick auf Alec.
»My Lord, Sie haben sicherlich noch Fragen …«
Alec war verärgert, weil er das Gefühl hatte, besiegt worden zu sein. Aber das war ja schließlich nicht die Schuld des Anwalts. »Der Mann, dem ich Fragen zu stellen hätte, ist tot, Mr. Raymond. Überlassen Sie mir bitte eine Kopie des Testaments! Ich möchte es noch einmal selber lesen. Ich danke Ihnen für Ihr Kommen, Sir. Oh, ich habe doch noch eine Frage. Zählen die dreißig Tage von Mr. Paxtons Todestag an oder vom Tag seiner Beerdigung?«
Mr. Raymond zog das sauber geschriebene Dokument
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