Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
oder dein Besuch später Hunger verspüren, bitte ich darum, leise zu sein.«
»Meine Güte, was sind das für verhätschelte Kleinkinder. Und welch blödsinnige Idee, zumal weit unter der Würde einer Prinzessin. Dass du hier überhaupt noch beschäftigt bist, grenzt in meinen Augen an ein Wunder.«
Wieder ignorierte Anki die spottende junge Frau. »Ich ziehe mich zurück, Nina, bin aber jederzeit erreichbar. Dich bitte ich, in ein, zwei Stunden ebenfalls zu Bett zu gehen.« Dieses Mal würdigte sie Raisa eines Seitenblicks, in der Hoffnung, dass die Baroness den Wink verstand, sich endlich zu verabschieden und nach Hause fahren zu lassen, zumal ihr Kutscher seit Stunden draußen bei den Pferden verharrte.
»Gute Nacht, Fräulein Anki«, flüsterte Nina, als wage sie in der Anwesenheit ihrer Freundin nicht, ihr auch nur eine Spur von Aufmerksamkeit zuzugestehen. Das Kindermädchen registrierte ihr Abhängigkeitsverhalten mit Trauer. Hatte sie an dem Kind so sehr versagt? Sie wollte Nina und ihre Schwestern doch zu eigenständigen, selbstbewussten Menschen erziehen, sie vorbereiten auf das Leben in diesem neuen Jahrhundert, das völlig andere Herausforderungen an die Frauen bereithalten würde als das vergangene.
»Ach, diesen ganzen Plunder hier kannst du gleich mitnehmen und verbrennen lassen.« Mit dem Fuß schob Raisa die Röcke, Blusen, exquisiten Festkleider, dazu Strümpfe, Stiefel und auch Unterkleidung und Haarschleifen in Richtung des Kindermädchens.
»Verbrennen lassen?« Entsetzt sah Anki das Mädchen an.
»Nina braucht endlich angemessene Kleidung. Abendgarderobe aus grauem Satin mit Spitze oder Kaninchenfell nach französischer Mode, Faltenröcke und entsprechende Blusen und natürlich Büstenhalter.«
»Wir haben Krieg, Hochwohlgeboren. Russland bekommt ja kaum seine Soldaten ordentlich eingekleidet, unmöglich kann …«
Raisa fuhr ihr ungehalten über den Mund: »Wie sprichst du über Russland und den Zaren? Soll ich dir seine Spezialpolizei, die Ohrana 27 auf den Hals hetzen?«
Anki unterdrückte mühsam ihren Zorn. Zwar besaßen weder Raisa noch ihr Vater Einfluss auf den Zaren, dessen war sie sich sicher, doch in der angespannten politischen Situation sollte sie – die hier als Deutsche galt – es nicht auf eine Konfrontation ankommen lassen. Also raffte sie einen Teil der Kleidungsstücke zusammen. Nähte man sie um, würden die Kleider bald Jelena passen. Ob Nina in diesen Krisenzeiten tatsächlich eine neue Garderobe bekam, musste ihre Mutter entscheiden. Die Fürstin war nicht unbedingt für Verschwendung zu haben, zumal viele der Kleider, die Anki nun über die Galerie trug, noch kein halbes Jahr alt waren.
Das verhaltene Geschrei eines Neugeborenen ließ dem Kindermädchen die Stoffe beinahe entgleiten. Das Kind war angekommen! Endlich hatten die Schmerzen der Fürstin ein Ende und würden bei allen schnell in Vergessenheit geraten, hielten sie den kleinen Prinzen oder die kleine Prinzessin erst in ihren Armen. Ein Strahlen breitete sich auf Ankis Gesicht aus. Unbändige Freude verdrängte die Erinnerungen an das unangenehme Gespräch mit Raisa. Tränen der Erleichterung kullerten ihr über die Wangen und tropften auf ihre apricotfarbene Bluse, wo sie dunkle Flecken hinterließen.
Im gedämpften Licht, das vom Foyer heraufdrang, eilte Anki zu der Tür, hinter der das Schreien des Neugeborenen zunehmend kräftiger wurde.
Plötzlich senkte sich die Klinke und die Hebamme trat mit dem greinenden Kind im Arm auf die Galerie. »Kann ich Ihnen das Mädchen vorerst überlassen, Njanja? Der Arzt braucht meine Unterstützung.«
»Was …?« Anki verschluckte ihre Frage, legte die Kleidungsstücke eilig auf eine Kommode und nahm das in ein weiches Baumwolltuch gewickelte Baby entgegen.
»Der Doktor musste das Kind mit einem Pfannenstiel-Kaiserschnitt holen. Fürstin Chabenski geht es nicht gut.« Noch ehe Anki Fragen stellen konnte, verschwand die Frau wieder im Zimmer der Fürstin.
Anki stieg die Stufen hinunter und warf, als sie unter die erste elektrische Lampe trat, einen Blick auf das Bündel in ihrem Arm. Dunkelblaue Babyaugen schauten über erstaunlich runden Wangen in ihre Richtung. Das Neugeborene war gewaschen worden, dennoch klebte hier und da etwas Käseschmiere in dem hellen Flaum auf dem perfekt geformten Köpfchen.
Liebevoll wiegte Anki das Kind in ihren Armen und konnte ein glückliches Lächeln nicht unterdrücken, selbst wenn die Angst um seine Mutter sie quälte.
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