Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
Dieses kleine Wesen war ein wunderbares Geschenk, auch wenn es nicht der erwünschte männliche Erbe war.
Sorgsam setzte sie einen Schritt vor den anderen, um ja nirgends anzustoßen oder gar zu stürzen, denn der Kleinen durfte kein Leid geschehen. Als sie die Tür zum Speisesaal erreichte, eilte ihr Jakow entgegen. Er griff nach der Türklinke, um ihr behilflich zu sein, zögerte dann jedoch und warf einen neugierigen Blick auf das Baby.
Anki trieb es erneut die Tränen in die Augen, als sie beobachtete, wie sich das Gesicht des alten, schweigsamen und zurückgezogen lebenden Dieners zu einem Lächeln verzog, wobei seine Zahnlücken offenbar wurden. Dennoch war es unbeschreiblich schön anzusehen, welche erstaunliche Wirkung dieses neue Leben auf die Menschen hatte. Es rief bei ihnen so viel Liebe und ihren Beschützerinstinkt hervor.
»Eine kleine Prinzessin, Jakow«, flüsterte Anki ehrfurchtsvoll.
Jakow richtete sich auf und öffnete die Tür für Anki. Sie schenkte ihm ein Lächeln, bevor sie in den dunklen Raum schlüpfte, in dem das knisternde Feuer einen unruhigen Lichtschein verbreitete.
Wie sie vermutetet hatte, erhob sich nicht nur Marfa von ihrem Notlager, sondern auch die Mädchen. Anki ging zu ihnen, setzte sich zwischen Jelena und Katja auf die Matratze und zog das Tuch vom Kopf ihrer neugeborenen Schwester.
Während Katja einen begeisterten Jauchzer ausstieß, blieb Jelena ungewöhnlich still. Doch ihr Blick schien jeden Zollbreit des hübschen Gesichts und der winzigen Hände abzutasten. Schließlich rutschte sie näher und schlug die Decke beiseite, damit sie die Füße mit ihren kleinen Zehen in ihre Hände nehmen konnte.
»Sie ist ein Wunder!«, flüsterte Jelena und überwand ihre ehrfürchtige Scheu, um Anki unzählige Fragen über das Neugeborene und nach dem Befinden ihrer Mutter zu stellen.
Das Baby vermittelte den Eindruck, als lausche es hingebungsvoll den Stimmen um es her und schlief irgendwann zufrieden ein. Schließlich kuschelten sich Jelena und Katja an ihr Kindermädchen und ihre Worte kamen immer seltener und gedehnter, bis auch sie schliefen.
Anki lächelte zu Marfa hinüber, die bittend und einladend zugleich ihre Arme ausstreckte. Nun, da die Prinzessinnen ihre Schwester ausgiebig bewundert hatten, wollte die Zofe ihren neuen Schützling begrüßen, obwohl Anki das kleine Wesen nur ungern abgab. Doch kaum hatte Marfa ihr das Kind abgenommen, klopfte es an der Tür und Jakow streckte den Kopf herein.
»Fräulein Anki, bitte!«
Anki schälte sich zwischen den Mädchen hervor und eilte zur Tür. Die Stimme des Dieners klang ungewohnt aufgeregt. Ob es mit Fürstin Chabenski nicht zum Besten stand? Hatte sie die Notoperation nicht überlebt? Angst jagte ihr in Wellen durch den Körper und beschleunigte ihren Herzschlag. Eilig drückte Anki sich durch den Türspalt ins Foyer und zog die Tür leise hinter sich ins Schloss.
***
Noch bevor Jakow etwas sagte, stürmte Ljudmila auf sie zu und warf sich so heftig in ihre Arme, dass Anki nach hinten taumelte und mit einem vernehmlichen Aufschlag gegen die Tür prallte. Dabei bohrte sich die verschnörkelte Türklinke unangenehm in ihre Seite. Sie unterdrückte einen Schmerzensschrei, umfing Ljudmila mit ihren Armen und hielt sie fest, während diese schnell atmend und am ganzen Leib zitternd ihren Tränen freien Lauf ließ.
Jakow brachte ihnen zwei der im Foyer stehenden Holzsessel. Rücksichtsvoll kehrte er dann in seine Kammer zurück, sodass sie allein in der Vorhalle waren, die von einer einzelnen Stehlampe unterhalb der Treppe dezent beleuchtet wurde.
»Ludatschka, was ist denn nur passiert?«
»Sie haben Jevgenia Ivanowna gefunden!« Ljudmilas Stimme klang, als dringe sie aus weiter Ferne wie durch eine dichte Nebelwand hindurch.
Anki blinzelte erschrocken. Was bedeutete das? War Jevgenia am Leben? Oder hatte man ihren Leichnam gefunden? Furchtsam blickte sie ihre Freundin an und fragte sich, ob die Mauer, die zwischen Ljudmila und ihrer Erinnerung gestanden hatte, durch das Auffinden Jevgenias eingerissen worden war. Kannte die Komtess nun die Wahrheit? War diese erleichternd oder eine zusätzliche Bürde für sie?
»Sie haben sie aus einem Kanal gezogen«, flüsterte Ljudmila und brach erneut in hysterisches Schluchzen aus.
Anki verschlug es für einen Moment den Atem. Seit jener Nacht, in der Rasputin Ljudmila vergewaltigt haben musste, wurde die Herzogin vermisst. Ljudmila hatte in ihren lückenhaften
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