Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
die verzweifelte Lage der Hungernden genutzt hatten, um einen Aufstand zu entfachen? Oskar schaut sie aus blutunterlaufenen Augen an. Sein Griff um ihr Handgelenk wurde noch kräftiger.
»Oskar, lass sie los!«, brüllte Alex gegen das Geschrei, Toben und Fluchen an und stieß den Bruder ihres Verlobten vor die Brust.
»Bist du bescheuert?«, entgegnete Oskar. »Was schleppst du sie hierher? Schaff sie weg!« Er ließ Anki los und tauchte innerhalb von Sekunden in der engen Gasse unter.
Schrilles Pfeifen näherte sich dem Tumult und ließ auch die zwei anderen Männer und ein paar Frauen mit ihren Broten in den Armen die Flucht ergreifen. Alex ergriff Anki um die Hüfte und schleifte sie zur Kutsche.
»Alex, dieses Kind, das da eben stürzte …«, begehrte sie auf.
»Du kannst ihm nicht helfen. Wir müssen verschwinden!« Alex’ Stimme klang gepresst.
»Aber wir können die Verletzten nicht einfach zurücklassen!«
»Du willst dich nicht mit diesen Polizisten auseinandersetzen!«, zischte der Kutscher und hievte sie rücksichtslos in das Gefährt.
»Alex, lass mich raus!«, kreischte Anki verzweifelt und wollte an dem Mann vorbei hinunter auf das schmutzige Pflaster springen. »Ich kann nicht gehen, ohne nachgesehen zu haben …«
»Diese Polizisten werden keine Fragen stellen und sich keine Erklärungen anhören, sondern zuschlagen und zutreten. Sie werden dich mitschleppen, verhören und einsperren. Womöglich über Tage oder Wochen, bevor du überhaupt Gelegenheit bekommst zu erklären, was du hier während des Aufruhrs getan hast.«
»Sie sehen doch an der Kutsche, dass ich es nicht nötig habe, nach Lebensmitteln anzustehen …«
»Du bist eine Njemka, dazu eine Bedienstete. Wie sehr die Chabenskis dich schätzten, wissen die da draußen nicht. Und von den Chabenskis ist niemand mehr da, der dich raushauen könnte!« Beinahe derb drückte Alex sie auf den Sitz zurück, als sie erneut versuchen wollte, sich an ihm vorbeizudrücken. »Denk an die Kinder, Njanja! Bleib drin!« Alex knallte den Schlag zu.
Anki hörte und spürte, wie er sich auf den Kutschbock schwang. Er hatte ja recht. Fürst und Fürstin Chabenski waren beide tot. Sie hatten Anki die vier Mädchen anvertraut, und sie hatte der sterbenden Oksana das Versprechen gegeben, sich um die Kinder zu kümmern. Das konnte sie aber nicht, wenn sie in einem Gefängnis saß. In ihren Gedanken wirbelten die letzten Minuten wild durcheinander. Sie wollte helfen und durfte es doch nicht! Die schrecklichen Bilder brannten sich in ihre Erinnerung ein und mit ihnen der Anblick des aggressiven Oskar. Alex hatte sie gerettet, aber er kannte Roberts Bruder! Er kannte die Männer, die den Aufstand heraufbeschworen hatten, um dann rechtzeitig unterzutauchen. Dafür gerieten unschuldige Frauen in die Fänge der Polizei und verschwanden vielleicht für lange Zeit in einem Gefängnis, während ihre Kinder allein zurückblieben – und das nur, weil sie für Brot angestanden hatten.
Das nervöse Schnauben der Pferde mischte sich mit dem schrillen Geräusch der Trillerpfeifen und den Schreien derer, die vergeblich vor den Beamten zu fliehen versuchten.
Anki wurde mit einem kräftigen Ruck gegen die Rückwand geworfen, als die Kutsche anfuhr. Schnell setzte sie sich auf das Polster. Der Vorhang vor dem Seitenfenster flatterte auf, und so sah sie, wie die Polizisten auf die am Boden kauernden Menschen einknüppelten. Dabei machten sie keinen Unterschied zwischen Männern, Frauen und Kindern.
Ankis Blick fiel auf den gestürzten Jungen. Er lag blutüberströmt und reglos auf den kalten Pflastersteinen, sanft und doch zugleich grausam präzise vom Sonnenlicht angestrahlt. War er gestorben, weil er auf ein Stück Brot gehofft hatte?
***
Die Kutsche hatte kaum angehalten, da erhob Anki sich und verließ das Gefährt, noch ehe Alex abgestiegen war. Mit in die Seiten gestemmten Händen erwartete sie den jungen Mann. Dieser zeigte den Anflug eines schlechten Gewissens, der sich jedoch sofort verflüchtigte und zornigem Stolz Platz machte. »Ja, ich kenne die Burschen, aber ich verachte ihre Vorgehensweise. Ich bin für einen Wandel der Politik, doch die Bevölkerung darf dabei nicht als Sündenbock herhalten, sondern muss daran beteiligt sein. Allerdings sehe auch ich, dass wir ohne rigorose Einschnitte nicht gegen machtbesessene Herrscher gewinnen können. Opfer sind leider nicht zu vermeiden.«
»Dieses Opfer war ein unschuldiges Kind«, entgegnete Anki leise.
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