Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
Tränen schossen ihr in die Augen, und sie schluchzte: »Erfahren seine Eltern jemals, was mit ihm geschehen ist, damit sie ihn wenigstens begraben und betrauern dürfen? Und was geschieht mit den Frauen, die auf der Straße zurückblieben? Sie haben womöglich Kinder! Sie werden vergeblich auf die Rückkehr ihrer Mütter warten und verhungern, wenn sich niemand um sie kümmert!«
»Ich sage dir doch, dass ich das Vorgehen dieser radikalisierten Gruppierungen nicht billige.«
»Aber du hast nichts dagegen unternommen!«, warf Anki dem Kutscher vor.
»Weil ich auch für dich verantwortlich bin und nicht mit einem Messer im Rücken in dieser Gasse enden wollte!«, gab Alex ebenso hitzig zurück. »Oskar und seine Freunde sind Schläger – und Schlimmeres!« Er trat auf sie zu, ergriff sie an den Schultern und sagte: »Es tut mir leid, Prinzessin. Ich wusste nichts von ihren Plänen, sonst hätte ich dich nie dorthin gefahren. Das musst du mir glauben. Ich würde dich niemals einer Gefahr aussetzen oder dich in diesen Kampf mit hineinziehen. Du bist ein gutes Mädchen – aber du bist auch eine Deutsche … oder Niederländerin … oder was auch immer!« Er grinste schief. »Das ist nicht dein Kampf, sondern unserer!«
Ankis Kehle entrang sich erneut ein Seufzer. Sie zitterte wie ein Schilfrohr im Wind und war froh, dass Alex sie festhielt. Beunruhigt blinzelte sie gegen die Sonnenstrahlen an. An diesem Tag hatte Alex ihren Verdacht bestätigt, dass er mehr war als nur ein einfacher Kutscher.
»Du hast seit Stunden weder geschlafen noch etwas zu dir genommen. Ich bringe dich jetzt zu den Chabenskis zurück.«
»Nein«, begehrte Anki auf und warf einen Blick auf den Palast der Zoraws, vor dessen Außenmauer und entlang der Auffahrt trotz der frühen Morgenstunde unzählige Landauer, Phaetons und Automobile abgestellt waren. »Ljudmila erzählte unlängst von einem schwangeren Dienstmädchen, das vom Graf entlassen werden sollte. Sie müsste inzwischen ihr Kind geboren haben.«
Anki ließ Alex stehen, nickte dem Pförtner zu, der ihr Einlass gewährte, und eilte die mit rotbraunen Steinplatten ausgelegte Auffahrt entlang zum Palais. Die Morgensonne spiegelte sich in den Fensterscheiben und brachte das frisch gestrichene Rot der Hausfassade und das Weiß entlang der Fenster, Giebel und der vier Ecktürmchen zum Leuchten.
Stimmengewirr und verhaltenes Lachen lockten Anki in den Garten, in dem sie so manche Stunde mit ihrer Freundin verbracht hatte. Sie hielt unter einem der von ihr so geliebten, noch nicht aufgeblühten Sommerflieder inne, als sie Bewegungen auf den Gartenwegen ausmachte.
Mehrere Herren in hellen Flanellhosen und sportiven gestreiften Blazern und mit den modischen Strohcanotiers auf den Köpfen schlenderten an den noch verwaisten, mannshohen Vogelvolieren entlang und unterhielten sich angeregt. Ihre legere Kleidung verriet Anki, dass sie nicht die Nacht durchgefeiert hatten, sondern sich zu dieser ungewöhnlich frühen Stunde zu einem vergnüglichen Anlass eingefunden hatten.
Auf der ebenerdigen Veranda eilten Bedienstete emsig umher, legten Polster und Kissen auf Stühle und Bänke und breiteten fliederfarbene Tischdecken aus, während an anderer Stelle bereits Kaffeegedecke aus weißem Porzellan und Teller mit Süßgebäck, Brot, Kuchen, Butter, Marmelade, Käse, Wurst und kaltem Braten aufgetischt wurden. Zuckerdosen, Sahnekännchen, eisgefüllte Sektkühler, Saftkannen und Wasserkaraffen folgten. Zwei Damen mit wagenradgroßen Hüten, auf denen ausladende Schleifen und Blüten prangten, spazierten auf die Tische zu. In ihren Händen trugen sie filigrane Spitzenschirmchen und ihre weißen, an der Hüfte schmal geschnürten Kleider waren ebenfalls reich mit Spitze geschmückt. Die langen Ärmel umspielten bauschig ihre Handgelenke und leuchteten mit dem weißen und violetten Flieder um die Wette, der soeben in bauchigen Vasen auf die Tische verteilt wurde.
Anki erkannte in der einen Dame Ljudmilas Mutter. Obwohl sie in eine Unterhaltung vertieft war, überwachte sie mit Argusaugen die Aufbauarbeiten für das Frühstück im Freien. Sie ergriff eines der süßen Häppchen und biss ein winziges Stück davon ab. Trotz der Entfernung konnte Anki sehen, wie sie das Gesicht verzog. Den Rest des Gebäcks warf sie auf die Wiese, wo sich kurz darauf einige Spatzen und eine Amsel um die Leckerei stritten, während die Gräfin nach dem Bäcker rufen ließ.
Anki drohte es beim Anblick der Überfülle und
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