Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
Gasse getreten war.
Alex warf ihr einen mitleidigen Blick zu, öffnete aber ohne ein Wort die Kutschentür. Die erschöpfte Anki hatte aufgehört zu zählen, an wie vielen Haustüren sie vergeblich geklopft hatte, beschimpft oder sogar mit einem Schuh, einem Topf oder irgendeinem anderen Gegenstand beworfen worden war. Kaum saß sie in der Kutsche, schloss Alex die Tür, schwang sich auf den Kutschbock und fuhr zu einer weiteren Adresse auf der Liste ehemaliger Angestellter der Chabenskis.
Müde rieb sich Anki die Augen. Es musste einfach eine Amme für die kleine Jenja aufzutreiben sein! Aber die Menschen dieser Stadt waren verbittert. Während ihre Söhne auf den Schlachtfeldern geopfert wurden, die Frauen nachts stundenlang in den dunklen kalten Gassen um Brot anstanden, nur um mit leeren Händen zu ihren vor Hunger weinenden Kindern zurückzukehren, verhärteten sich ihre Ansichten der Obrigkeit gegenüber, die sie in diese missliche Lage manövriert hatte. Und Anki konnte es ihnen nicht verdenken. Zu lange schon fühlten die Menschen dieser Stadt sich ausgenutzt und benachteiligt. Die Lage wurde durch den Krieg und einen übermäßig harten Einsatz der Polizei- und Militärkräfte noch verschärft. Chaos und Verfall nahmen überhand.
»Ich kann nicht aufgeben«, sagte Anki in ihre Handflächen, in die sie ihr Gesicht gebettet hatte, um für ein paar Minuten ihre Augen zu schließen.
Es dauerte nicht lange, bis ihr Kutscher das Gefährt erneut anhielt, ihr die Tür öffnete und den Tritt ausklappte. »Hier müsste Galina wohnen, eine ehemalige Küchenhilfe. Sie wurde beim Stehlen von Lebensmitteln erwischt und vom Küchenchef davongejagt.«
»Eine Diebin, na wunderbar!«, murmelte Anki entmutigt, stieg aber dennoch aus.
Alex ergriff sie am Arm und hielt sie ungewöhnlich energisch zurück. »Sie steckte damals ein paar Apfelschalen ein. Die wollte sie ihren Kindern mitbringen.«
Aus Ankis Kehle klang nur ein tiefes Seufzen. Apfelschalen, die für den Müll gedacht gewesen waren, bestimmten in den Küchen der Adelshäuser über Leben und Tod?
»Anki, sieh dich doch um. Diese Ungerechtigkeit im Land, die Diskrepanz zwischen Hunger und Verzweiflung auf der einen, Wohlstand und Verschwendung auf der anderen Seite kann nicht länger Bestand haben.« Alex’ Augen flackerten fast wild, und wieder einmal schlich sich bei dem Kindermädchen die beunruhigende Ahnung ein, dass Alex nicht nur ein einfacher Kutscher war. Ihr Verdacht, dass er zu einer im Untergrund agierenden Bewegung rund um den Mann mit dem Kampfnamen Lenin gehörte, vor der die Reichen und Mächtigen in Petrograd wohl zu Recht zitterten, bestätigte sich zunehmend. Neuerdings umgaben sich viele Adelige wie Ljudmilas Vater mit Leibwächtern, um vor radikalen Anhängern dieser Gruppierung geschützt zu sein.
»Galina also«, murmelte Anki und machte sich wieder ihrer drängenden Aufgabe bewusst. Sie ging ein paar Schritte und bemerkte ganz in ihrer Nähe eine der typischen Menschenschlangen, die vor einer Bäckerei auf die Öffnung und die Ausgabe von Brot warteten. Erschüttert betrachtete sie die ausgezehrten Kinder zwischen den Frauen. Vermutlich teilten die Mütter ihre Nachkommen ein, um an verschiedenen Geschäften anzustehen, in der Hoffnung, dass zumindest ein Familienmitglied an dringend benötigte Lebensmittel herankam. Eines der jüngeren Mädchen, Anki schätzte sie auf sieben Jahre, lehnte schlafend an der Frau vor ihr. Zwei Jungen in etwa demselben Alter hielten sich dösend aneinander fest, während eine etwa Zwölfjährige vor Erschöpfung wie in Trance vor- und zurückschwankte.
Ob die Not in ganz Russland so erschreckend groß war? Wie sah es im Deutschen Reich aus, das zudem von einer Blockade betroffen war? Wie ging es wohl der Familie Busch in Tübingen oder ihren Geschwistern in Berlin?
Energisch verschob Anki diese Überlegungen auf später, sprach ein kurzes Gebet für diese Menschen und klopfte ein weiteres Mal in dieser Nacht an eine Tür. Eine verhärmt aussehende Frau mit einem winzigen Säugling im Arm öffnete.
»Galina? Bist du Galina?«, fragte Anki leise.
»Wer fragt das?«, lautete die mürrische und misstrauische Antwort.
»Alex brachte mich hierher. Du erinnerst dich doch an Alex?« Anki deutete auf den abseits wartenden Kutscher.
Die Frau nickte. Ihr Blick verdüsterte sich, als sie das Wappen an der Wagentür erkannte. »Was willst du?«
»Fürstin Chabenski hat ein kleines Mädchen zur Welt gebracht,
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