Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
ein bisschen unserer Mentalität, die Feste zu feiern, wie sie fallen. Darin sind wir wirklich gut. Wir trauern auf unsere Weise, Anki, und ich dachte, du könntest uns Russen besser einschätzen.«
Anki blinzelte gegen die durch die Bäume fallenden Sonnenstrahlen an. Es freute sie, dass Ljudmila einen versöhnlichen Gesprächsabschluss suchte, dennoch stand ihr das dramatische Geschehen, dessen Zeugin sie hatte werden müssen, noch entsetzlich lebendig vor Augen. »Ich war zu kritisch, Ludatschka, entschuldige bitte.«
Die aussichtslose Lage der Bevölkerung thematisierte Anki nicht mehr, da sie ohnehin kaum auf Verständnis von Ljudmila hoffen konnte. Die russische Aristokratentochter kannte nichts anderes als das bequeme, verwöhnte Leben ihrer Familie und ihres adeligen Umfelds. Wahrscheinlich konnte sie sich die Armut in den Straßen ihrer Heimatstadt nicht einmal vorstellen.
»Geh nach Hause, tapfere Njanja, und hol deinen Schlaf nach. Ich verspreche dir, dass ich mit Mutter spreche, wenngleich sie im Augenblick vermutlich keinen Gedanken an Valentina verschwenden möchte. Ich sorge dafür, dass die junge Mutter zur Mojka kommt.«
»Ich lasse mich von Alex nach Hause fahren und schicke ihn dann hierher zurück, um die Amme abzuholen.«
Ljudmila nickte ihr hoheitsvoll zu. Sie erkannte hinter Ankis Vorschlag sehr wohl die Absicht, dass sie ihrer Mutter den Vorschlag unverzüglich unterbreiten sollte. »Du hast ein großes Herz, Anki. Ein Löwenherz. Bewahre es dir!«, murmelte Ljudmila noch, ehe sie sich abwandte.
Anki glaubte, in ihrer Stimme einen Hauch von Neid zu hören. Aber sie war zu erschöpft, um sich darüber Gedanken zu machen. Mit müden Schritten verließ sie den Garten und ging die Auffahrt entlang, in der mittlerweile noch mehr Fahrzeuge parkten, denen trotz der ungewöhnlich frühen Stunde muntere Gäste entstiegen.
Als das Kindermädchen gerade im Begriff war, das Tor zu passieren, wurde ihr schwindelig. Halt suchend griff sie nach einer der gusseisernen Verstrebungen, hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass der Torflügel daraufhin zuschwingen würde. Unsanft landete sie auf den Knien, wobei das Tor, von ihr noch immer fest umklammert, zurückkam und gegen ihre Schläfe prallte.
Anki stöhnte auf und verharrte auf dem Boden, bis starke Hände sie hochhoben und zur Kutsche trugen. Sie wurde auf dem Tritt abgesetzt und Alex’ besorgter Blick begegnete ihrem. »Geht es wieder, Prinzessin?«
»Ja, danke.«
»Ich bringe dich jetzt auf der Stelle zum Chabenski-Palast. Dort wirst du etwas essen, trinken und dich hinlegen. Lass dir ja nicht einfallen, etwas anderes zu erledigen. Ich setze den guten alten Jakow auf dich an. Auch wenn der mich nicht leiden kann – um dich wird er sich Sorgen machen!«
Anki verspürte Erleichterung darüber, dass Alex nun das Heft in die Hand nahm. Die vielen Gespräche hatten sie angestrengt, zumal es ihr ohnehin schwerfiel, auf fremde Personen zuzugehen. Die Anfeindungen wie auch der Aufstand vor dem Laden hatten sie völlig ausgelaugt, und die Aussicht auf ein wenig Ruhe und Zurückgezogenheit empfand sie als herrlich.
»Du bist ein großartiger Mann«, flüsterte Anki schwach und glaubte, über das Schließen des Schlags hinweg zu hören, wie Alex murmelte: »Aber wohl nicht gut genug für dich.«
Kapitel 39
Bei Riga, russisches Gouvernement Livland,
August 1915
Ein Kavallerieregiment donnerte an Robert vorbei und wirbelte die trockene Erde auf wie tanzende Dämonen, ehe der frische Ostseewind sie mit sich davontrug. Scharf gebrüllte Befehle erfüllten die Luft, und schwarz glänzende Raben flatterten auf, um sich nur Sekunden später an derselben Stelle wieder niederzulassen. Robert schaute lieber nicht so genau hin, über was die Vögel sich so gierig hermachten.
Er war kein grüner Junge mehr, weder was seine Tätigkeit als Arzt betraf, denn Übung bekam er in diesem Krieg genug, noch was seine Erfahrungen mit sich verschiebenden Frontabschnitten, dem ständigen Gebrüll der Waffen und dem Leiden und Sterben Abertausender Männer anging.
Robert hatte den Vormarsch der deutschen und k.u. k. Truppen in Richtung der Flüsse San und Dnjester miterlebt, ebenso wie die Wiedereinnahme Lembergs. Die Mittelmächte 32 hatten Galizien von den Russen befreit und die russische Armee nach nur sieben Wochen in ihre Ausgangsstellungen zurückgedrängt; damit entbrannte der Kampf um Polen. Mehrere Hunderttausend Mann waren bis dahin auf beiden Seiten
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