Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
Zar Nikolaj hatte am 23. August persönlich den Oberbefehl über das russische Heer an sich gerissen und schien damit in ein Wespennest gestochen zu haben. Viele Militärs fühlten sich übergangen. Sie zweifelten mehr öffentlich als heimlich die strategischen Fähigkeiten ihres obersten Befehlshabers an und verbündeten sich mit denjenigen aus dem Adel, die schon lange die Schwäche, Nachsicht und auch das Desinteresse des Zaren bemängelten und eine noch größere Einmischung der deutschen Zariza und ihres zweifelhaften Vertrauten Rasputin in die politischen Belange befürchteten.
In dem Durcheinander von vorbeihastenden Dienern, den Militärs mit ihren knallenden Stiefeln und den immerzu diskutierenden und sich gegenseitig mit Vorschlägen und Beschimpfungen übertreffenden Beratern fühlte Anki sich vollkommen verloren. Sie saß auf einer gedrechselten Holzbank, die mit goldschimmerndem Samt bezogen war, machte sich so klein wie möglich und wartete darauf, dass Dr. Botkin Zeit für sie fand. Zwar hatte sie sich gewünscht, Ljudmila wäre an ihrer Seite geblieben, doch diese wollte natürlich den Großfürstinnen einen Besuch abstatten und war im Kinderflügel verschwunden.
»Anki van Campen, weshalb sind Sie nicht in den Flügel der Familie gekommen?« Dr. Botkin streckte ihr seine Hand hin und zog sie sogar auf die Füße. »Kommen Sie, diesem Taubenschlag müssen wir uns nicht aussetzen.«
Anki folgte dem Arzt der Zarenfamilie und lächelte heimlich in sich hinein. Dr. Botkin war einfach einmalig. Nur weil er bei der Zarenfamilie ein und aus ging, konnte er doch nicht annehmen, dass sie das ebenfalls tun durfte, zumal sie nur einmal in Begleitung von Fürstin Chabenski das Palais der Zarenfamilie betreten hatte.
Sie durchquerten eine verwirrende Folge von Fluren, Türen und weitläufigen, herrschaftlich ausgestatteten Räumen, bis sie schließlich den deutlich stilleren Palastflügel erreichten. Im Eingangsbereich deutete Dr. Botkin auf einen Stuhl und bat ein Dienstmädchen, ihnen Tee zu servieren.
»Es tut mir leid, dass ich Sie so spät noch störe, Exzellenz.«
»Ein wichtiger Grund wird Sie zu so später Stunde auf die Reise nach Zarskoje Selo getrieben haben.«
Getrieben ! Anki fand dieses Wort sehr passend. Ihre Sehnsucht und Angst um Robert trieb, ja peitschte sie an. Ihr Tee wurde gebracht, doch Anki ignorierte ihn. Der Brief, den sie in ihrer winzigen Handtasche mit sich trug, war drängender als alle höflichen Konventionen und bedurfte einer sofortigen Weitergabe an den einzigen Mann, der ihr und Robert zu helfen imstande war. »Sie sind sicher sehr beschäftigt …«
»Robert Busch hat mir viel von Ihnen erzählt. Sie würden wohl keine spätabendliche Fahrt hier heraus unternehmen, würde Sie nicht eine dringende, unaufschiebbare Angelegenheit dazu zwingen. Also sprechen Sie bitte frei.«
Erleichtert lächelte Anki den gutmütigen Mann an, öffnete ihre Tasche und zog Fürst Chabenskis letzten Brief an seine Familie hervor. Dr. Botkin nahm ihr das Papier aus der Hand, erhob sich und trat zu einer Lampe, um mehr Licht zum Lesen zu haben. Auch er las nur die kurzen, von Robert unter die Zeilen des Obersts gesetzten Sätze und drehte sich nach Beendigung der Lektüre mit nachdenklicher Miene zu ihr um. Anki sprang auf und gesellte sich neben ihn.
»Ich werde sehen, was ich für den jungen Mann tun kann, möchte aber zu bedenken geben, dass die russischen Mühlen sehr langsam mahlen. Es könnte Wochen dauern, bis ich erfahre, wohin Robert Busch gebracht wurde und bis eine Bitte von mir, hoffentlich unterstützt von der Zariza persönlich, ihn zurück nach Petrograd bringt.«
Anki wollte dem Hofarzt mit Tränen in den Augen für seine geplante Intervention danken, als eine schneidende Stimme sie herumwirbeln ließ. »Vielleicht muss ich der Mama nicht nur immer wieder vor Augen halten, dass die Ärzte nicht für den armen Alexej taugen, sondern auch, dass ihre Machenschaften nicht unterstützungswürdig sind. Vor allem, wenn sie mit einer Deutschen zu tun haben oder im Zusammenhang mit irgendwelchen Deutschen stehen!«
»Rasputin«, flüsterte Anki entsetzt und wich zurück, wobei sie gegen den Arzt stieß. Dieser legte ihr sanft die Hände auf die Schultern.
Rasputin trug an diesem Abend eine auffällige weinrote Seidentunika, die er mit einem schwarzen, ebenfalls aus Seide gefertigten Band gegürtet hatte.
»Vergessen Sie da nicht die Herkunft ihrer Hoheit Alexandra Fjodorowna?«,
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