Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
müssen.
Demys Hand glitt über die Bibel auf Tillas Nachttisch. Das Buch mit dem wertvollen Goldschnitt hatte dort gelegen, als sie Tilla tot aufgefunden hatte, was ein großer Trost für sie gewesen war. Am Ende ihres Lebens, das Tilla zu einer von Verletzungen und Schuld geprägten Gejagten gemacht hatte, mochte sie bei Gott Frieden gefunden haben. Demy sah weder in Tilla noch in ihrem Vater Verbrecher, sondern Menschen, deren Lebenspfade von tiefen Schluchten durchzogen gewesen waren, ohne dass sie einen Weg hinübergefunden hatten. Tilla jedoch hatte hoffentlich am Ende ihres Lebens die einzig wichtige Brücke entdeckt: die hinüber in Gottes liebende und vergebende Arme.
In der offen stehenden Tür bewegte sich etwas, was Demy veranlasste sich umzudrehen. Hannes lehnte an der Zarge, hatte die Arme vor seinem Uniformrock verschränkt und schien sie bereits längere Zeit zu beobachten. »Na, meine Kleine, was beschäftigt dich?«
»Die Menschen.«
»Und ihre Abgründe?«
Demy lächelte. Als Soldat hatte er vermutlich tagtäglich in viele schreckliche Abgründe geblickt, ohne dass sie ihn bisher mit in die Tiefe ziehen konnten. Er war aber von einem leichtlebigen, nur auf sich selbst konzentrierten Burschen zu einem verantwortungsbewussten Ehemann, Vater und Leutnant gereift.
»Vielmehr denke ich an die Gelegenheiten, die diese Abgründe bergen, und ob wir sie wahrnehmen oder ungenutzt verstreichen lassen.«
»Du kannst niemanden zu seinem Glück zwingen. Dir bleibt nur die Möglichkeit, dem anderen so lange deine Liebe zu schenken, bis er sie akzeptiert und sich dadurch verändern lässt.«
Demy rümpfte die Nase und fragte sich, ob Hannes ihr Gespräch mit dem Rittmeister mitgehört hatte oder ob er zumindest ahnte, woher sie kam.
»Und jetzt komm, zwei sehr aufgeregte junge Damen waren auf der Suche nach Edith, dir und mir, da inzwischen fast alle Gäste eingetroffen sind.« Hannes bot ihr galant seinen Arm, und so ließ sie sich von ihm die Stufen hinab ins Foyer geleiten.
Mit vor Staunen aufgerissenen Augen blieb Demy in der Tür stehen. Zum ersten Mal seit Langem waren die Kronleuchter wieder mit Kerzen bestückt worden, wenngleich an ihrer Anzahl gespart worden war. Der Raum erstrahlte in feierlichem Licht, selbst die Kerzen an dem schlanken, großen Weihnachtsbaum waren bereits angezündet worden. Entlang der Tischreihen saßen festlich herausgeputzte Gäste, einige von ihnen standen noch an der Treppe zum Vorfoyer und unterhielten sich fröhlich. Demy überkam ein berauschendes Gefühl. Es war eine Freude, das Ehepaar Anton und Lina Daul gemeinsam mit Margarete und ihrer Tochter im Gespräch mit den Angestellten zu sehen. Maria, Theodor und Edith bemühten sich gemeinsam um ihre Findlingsgäste.
Demy versuchte sich an die längst vergangenen Festlichkeiten in diesem Saal zurückzuerinnern, doch es gelang ihr nur schwer. Damals hatte sie sich völlig fehl am Platz gefühlt, denn die Herrschaften in ihren steifen Fracks und kostbaren Kleidern hatten sie eingeschüchtert. Heute war alles ganz anders.
Wilhelmine, Hennys jüngere Schwester und eine von Demys Schülerinnen, lief auf sie zu und umarmte sie stürmisch zur Begrüßung. Dabei fiel Demys Blick auf Willi und Peter. Die Brüder lungerten im kleinen Foyer nahe der Tür herum und warteten auf ihre Schwester Lieselotte. Allerdings vergeblich, so befürchtete Demy. Ihre einstige Freundin hatte die Zwillinge, seit sie diese hier abgeliefert hatte, nur jeweils an ihrem Geburtstag für ein paar Stunden auf einen Ausflug mitgenommen, um anschließend wieder in ihrer eigenen Welt unterzutauchen.
Hannes, den Demy gebeten hatte, die Regie zu übernehmen, klatschte mehrmals in die Hände und bat die Gäste auf ihre Plätze. Wilhelmine huschte schnell zwischen ihre Eltern und Henny, während Peter und Willi sich mit enttäuschten Gesichtern zu Nathanael, Pauline und Irma, Monika und ihrem Kind und dem alten Viktor Müller setzten.
»Ich will es kurz machen, immerhin haben wir eine von Maria Degenhardt und ihren Helfern wunderbar zubereitete Mahlzeit vor uns«, begann Hannes seine Ansprache.
Demy lächelte Edith zu. Ihr Mann machte sich gut als Hausherr.
»Herzlichen Dank an diese Küchenmannschaft, vor allem aber an meine kleine Schwester Demy für die großartige Idee, Heiligabend gemeinsam zu begehen. Und nun bitte ich Demys Pflegesohn Nathanael darum, das Tischgebet mit uns zu sprechen.«
Noch ehe Beifall aufbranden konnte, drang das
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