Sturmzeit
hätte aufstehen mögen und gehen, aber er ahnte, daß er es kaum bis zur Haustür schaffen würde. Warum war er krank geworden?
Warum war Ilja nicht gekommen? Weshalb hatte Felicia ihn finden müssen? Weshalb immer und immer und immer wieder Felicia...
»Sobald ich laufen kann«, sagte er, »mache ich mich auf den Weg.«
Felicia legte ihr Wörterbuch weg. »Ach ja. Zu deiner Mascha, die dich im Stich gelassen hat, als du sie am dringendsten gebraucht hättest.«
Maksim betrachtete sie kalt. »Du müßtest eigentlich zu stolz sein, deine Verdienste gegen die von Mascha in die Waagschale zu werfen!«
»Keine Sorge. Ich will weder dich noch mich, noch Mascha wiegen.« Felicias Augen blickten nicht weniger kalt als die von Maksim. »Es ist nur so, daß ich nach wie vor versuche, das Rätsel zu lösen, weshalb du gerade Mascha gewählt hast. Von allen Frauen - warum sie?«
Maksims Lippen verzogen sich zu einem leisen Lächeln.
»Und das, wo sie gar keine eleganten Kleider trägt und nicht ganz so hübsch ist wie du, stimmt's?«
Felicia hob eine Augenbraue. »Also - warum?«
»Wie soll ich es dir erklären? Du wirst es nie begreifen. Sie teilt meine Ideen, meine Ideale. Sie kämpft meinen Kampf, und sie hat dasselbe Ziel. Ich liebe sie, weil sie ist wie ich. Wir sind einander gleich.«
»Eben nicht«, sagte Felicia hart.
Maksim wandte den Kopf. »Was?«
»Eben nicht, ihr seid völlig verschieden, aber das willst du nicht sehen. Soll ich dir sagen, welches der Unterschied ist? Als du krank warst, ist Mascha dennoch gegangen. Wäre Mascha krank geworden, du wärest geblieben.« Felicia lächelte. In ihren Augen blitzte ein boshafter Funke. »Das ist der springende Punkt, nicht wahr?«
Maksim erwiderte nichts. Sein Gesicht blieb starr. Unbarmherzig fuhr Felicia fort: »Du liebst Mascha nicht, weil du dich in ihr wiederfindest. Sie ist nicht dein Spiegelbild. Sie ist nur ein Spiegelbild dessen, was du gern wärst. Die vollkommene Revolutionärin. Die fleischgewordene Idee. Ohne Skrupel, ohne Zweifel. Ohne das, was du an dir so haßt und so verzweifelt verdrängst. Du klammerst dich an sie, um nicht unterzugehen in dieser Revolution. Ja, in der Theorie war das alles sehr schön. Du allein am Schreibtisch mit Karl Marx. Saubere Buchseiten, gefüllt mit schönen Gedanken. Aber in der Wirklichkeit... da ist soviel Blut. So viel Haß. So viel Eigennutz. Du erträgst es nicht. Du bist kein Robespierre, Maksim. Wie sagt euer großer Lenin? Weg mit der Weichheit! Ha!« Felicia lachte auf und warf den Kopf zurück. »Das kannst du nicht. Du kannst es nicht. Du wirst ihm nicht bis zum letzten folgen. Aber mit Mascha an deiner Seite kannst du dich wenigstens in der Illusion wiegen, es zu tun. Also geh! Geh zu ihr zurück! Aber mach dir wenigstens nichts vor!« Sie hielt inne. Ihre schmalen Augen glühten. Nicht die leiseste Regung von Mitleid, keine Spur Wärme war in ihren Zügen. Nur kaltes Erkennen, unbestechliche Ehrlichkeit.
Wie immer, wenn Maksim in seinem Glauben, Felicia sei nichts als eine oberflächliche Puppe, der schöne Sproß einer dekadenten Bürgersfamilie, erschüttert wurde, durchzuckte es ihn in jähem Schrecken. »Du weißt das alles aber sehr genau«, bemerkte er kühl.
Felicia trug einen verächtlichen Zug um den Mund. »Ja, und ich weiß noch mehr. Und wenn du's hundertmal abstreitest, ich weiß doch, daß ich für dich eine Versuchung bin. Ob du mich liebst, weiß ich nicht, aber an mir vorbeischauen kannst du auch nicht. Woher ich das weiß? Da war die Nacht in München, als du kamst, weil du Geld wolltest. Nur eine schwache Minute? Du hast viele schwache Minuten gehabt seither, Maksim. Du hast Angst, mir zu begegnen, aber ist es nicht so, daß ein Mensch nur fürchtet, was ihm gefährlich werden kann? Bedeute ich eine solche Gefahr für dich, daß du lieber einsam in einem Keller am Fieber krepieren würdest, als dich in meine Hände zu begeben?
Und wenn das so ist, dann gib es lieber dir selbst gegenüber zu. Belüg dich nicht!«
Es herrschte eine beklemmende Stille im Zimmer, unterbrochen nur von den Regentropfen, die jetzt schwächer und bloß noch vereinzelt gegen das Fenster spritzten. Schließlich sagte Maksim: »Du hast recht. Was unsere Revolution angeht, quälen mich Zweifel. Und vielleicht brauche ich Mascha tatsächlich, um weitermachen zu können. Sie und ich, wir sind verschieden, was die Methoden unseres Kampfes betrifft, aber unsere Idee und unser Ziel sind gleich. Und da gibt es
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