Sturmzeit
faßte seine Hand.
»Du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen. Dein Vater wird gegen Wolff verlieren, und mich trifft er damit am allermeisten. Ich brauche dich!« Verdammt, dachte sie bei sich, ich habe noch immer jeden Mann weich gekriegt!
Er betrachtete sie amüsiert. »Geh doch zu Marakow«, sagte er freundlich. »Denn bei mir rufst du nichts mehr wach. Mitleid... nicht für dich, mein Liebling. Du brauchst es im übrigen nicht!«
Sie senkte die Augen, um sich rasch auf eine neue Taktik einzustellen, dann blickte sie auf, sah unter langen Wimpern zu ihm empor. Sie hob sich auf die Zehenspitzen und fand seinen Mund. Sanft und herausfordernd berührten ihre Lippen die seinen. Sie spürte, wie sich sein Arm um ihren Rücken legte. Mit ungewohnter Behutsamkeit erwiderte er ihren Kuß. In seinen Augen sah sie etwas... etwas von früher, etwas von der Art, wie er sie angesehen hatte, bevor sie sich beide darin gefielen, einander Boshaftigkeiten um die Ohren zu schlagen. Sie seufzte leise. Sie hatte ihn verführen wollen, aber für den Moment schien es ihr, als sei sie die Verführte. Die Tatsache, daß sie jedesmal verrückt nach ihm wurde, wenn er sie in die Arme nahm, war ihrem Gedächtnis entglitten. Verzweifelt dachte sie: Er darf nicht fortgehen. Ich brauche ihn. Ihn, nicht sein Geld!
Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück. Ihre Augen brannten, er konnte es sehen. Er hatte ihren schnelleren Atem gehört.
Für den Bruchteil einer Sekunde schwankte er, dann ging er zur Tür. »Nur der verdient die Freiheit und das Leben, der täglich sie erobern muß«, sagte er. »Faust. Ich will meine Freiheit und vielleicht... ja, vielleicht will ich sogar noch etwas Leben. Also, was mich betrifft, ich gehe hin und erobere es mir. Und du wirst es genauso machen.«
Enttäuschung, Schmerz und Wut brachen gleichzeitig über Felicia herein. »Ich lasse mich scheiden!« fauchte sie. Er trat hinaus auf den Gang. »Dann tu's doch«, sagte er und schloß die Tür.
Die Ereignisse überstürzten sich. Herbst 1918, und Berlin war wie im Fieber. Die Extrablätter konnten so rasch kaum gedruckt werden: »Oberste Heeresleitung ersucht um sofortigen Waffenstillstand - Prinz Max von Baden neuer Reichskanzler - Verfassungsreform angenommen - Ludendorff entlassen - Meuterei auf der deutschen Hochseeflotte - Matrosenaufstand in Kiel - Revolution in München, Wittelsbacher gestürzt, Freistaat Bayern proklamiert - Reichskanzler verkündet die Abdankung des Kaisers - Philipp Scheidemann ruft die Deutsche Republik aus - Friedrich Ebert neuer Reichskanzler - Kaiser Wilhelm II. flieht in die Niederlande - Waffenstillstand von Compiegne, endlich Frieden?«
Innerhalb weniger Tage, schneller, als es einer begreifen konnte, war Deutschland zur Republik geworden, hatten Revolution, Streik, Meuterei und Umsturz das Land überrollt, war der Kaiser geflohen, hatten General Foch und Matthias Erzberger ihre Waffenstillstandsverhandlungen abgeschlossen. In die Fassungslosigkeit darüber, daß nun tatsächlich Friede sein sollte, mischten sich Unsicherheit und Verwirrung. Wie würde es nun weitergehen? Noch herrschte keineswegs Ruhe im Land. Spartakusbund und SPD rangen um die Vormacht, der Gedanke an eine Räterepublik nach sowjetischem Vorbild geisterte durch viele Köpfe. Täglich flatterten Flugblätter durch Berlin, die zu Streik und Revolution aufriefen, verfaßt von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, Führer der Spartakisten. Die Versorgungslage besserte sich nicht, die Schlangen vor den Geschäften gehörten nach wie vor zum vertrauten Straßenbild. Und da war der bittere Gedanke an die Toten, an die ungezählten Gräber von Verdun, an französische Flüsse und Städte, deren Namen sich für alle Zeiten mit den furchtbaren Schlachten dieses Krieges verbinden würden; Marne, Somme, Verdun, und das Schrecklichste von allen: Fort Douaumont, ein Name, der wie ein Gespenst durch alle Straßen wanderte, steter Begleiter des Bildes, das dieser Krieg von seinen Kämpfern zeichnete der Soldat, der mit müden Augen unter seinem Stahlhelm hervorsieht und sich die Frage zu stellen scheint, wofür er eigentlich sein Leben hingibt.
Johannes kehrte an dem Tag nach Berlin zurück, an dem der Kaiser aus seinem niederländischen Exil heraus offiziell seine Abdankung bekanntgab. Linda stieß einen Schrei aus, als sie ihn in der Tür stehen sah. Bis zu diesem Moment noch hatte sie um sein Leben gefürchtet, denn in den letzten Monaten hatte es, trotz
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