Sturmzeit
das allzu Weibliche, Niedliche, Kokette aus Vorkriegstagen war irgendwo auf dem Weg zwischen 1914 und diesen Tagen verlorengegangen. Die Frauen sahen nicht mehr aus, als seien sie frisch der Gartenlaube entstiegen. Sie hatten sich während des Krieges in Männerberufen behaupten müssen, kannten ihren Wert, ihre Intelligenz, und sie hatten jetzt das Wahlrecht.
Wenn sie zu den Männern aufsahen und Augen machten, als hielten sie sie für halbe Götter, dann zuckte um ihren Mund gleichzeitig ein Lächeln, als wollten sie sagen: »Das ist nur Spiel, vergeßt es bloß nicht!«
Natürlich gab es daneben noch das andere Bild Berlins. Die Krisenzeit war nicht vorüber. Es gab wenig zu essen, das Straßenbild beherbergte zu viele Bettler, zu viele zerlumpte Kinder, Schlangen vor den Läden und Kriegsveteranen mit leeren, müden Gesichtern, zerschossenen Knochen und amputierten Gliedern. Sorge und Angst waren noch lebendig. Man sprach von der schleichend fortschreitenden Geldentwertung, vom Anwachsen rechter Kräfte, die seit demKapp-Putsch im vergangenen Jahr zur reellen Bedrohung geworden waren. Zwei Zeitalter mischten sich; das letzte war noch nicht vergangen, das neue konnte sich noch nicht behaupten, aber in der Verschmelzung wehte ein scharfer Wind. Felicia genoß Berlin, wenn ihr auch Elsas sanfte Vorwürfe auf die Nerven gingen. Ihre Mutter verstand nicht, weshalb sie nicht bei Mann und Kindern geblieben war, aber am allerwenigsten billigte sie es, daß die Tochter sich auch noch amüsierte. Es schockierte sie, als Felicia eines Nachts erst um halb fünf in der Frühe nach Hause zurückkehrte, so sehr diese auch beteuerte, sie sei schließlich mit Jo fort gewesen und eine bessere Anstandsdame könne es nicht geben.
Tatsächlich hatte Jo sie nach langem Zögern mit in ein Studentenlokal genommen, wo zu seiner größten Verlegenheit gegen Mitternacht zwei leichtbekleidete Mädchen mit wippenden Hasenohren auf dem Kopf auftauchten und auf einem Tisch tanzend ihre langen Beine schwenkten. Ein uralter, bärtiger Maler, der zwischen den jungen Leuten saß, legte seine Hand auf Felicias Knie, sah sie eindringlich an und sagte, er habe solche Augen nie zuvor gesehen, er müsse sie malen. Felicia lachte dazu und fand sich irgendwann neben dem Klavier stehen, wo sie das wehmütigste und populärste Lied des Krieges sang: »Die alten Straßen noch, die alten Häuser noch, die alten Freunde aber sind nicht mehr...« Der Student, der sie begleitete, brach in Tränen aus und fragte sie, ob sie ihn heiraten wolle, und der Wirt, von Rührung übermannt, gab für alle Freibier aus. Jo entschuldigte sich am nächsten Tag für diese Nacht, aber Felicia hatte zum erstenmal seit langem wieder das Gefühl gehabt zu leben.
»Nimmst du mich mit nach München?« fragte Nicola am Nachmittag, als Felicia aus tiefem Schlaf erwachte. Nicola wohnte bei Elsa, aber sie war inzwischen vierzehn Jahre alt, und das Leben mit ihrer schwermütigen, schweigsamen Tante bedrückte sie zunehmend.
Elsa gab die Erlaubnis, wenn auch nach langen Ermahnungen.
»München ist eine turbulente Stadt. Ich will nicht, daß Nicola verwildert!«
Sowohl Felicia als auch Nicola schworen hoch und heilig, das werde nicht geschehen. Im März - es loderte gerade wieder sozialistischer Aufruhr an allen Ecken und Enden, reisten sie nach München.
Tom Wolff hatte gewußt, daß Felicia kommen würde. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen. So arrogant sie sich auch benehmen mochte - auf die Dauer kam sie an ihm nicht vorbei.
»Mir gehören achtzig Prozent der Fabrik«, sagte er, als er ihr gegenübersaß. Um zehn Uhr, so hatte sie ihm telefonisch ausrichten lassen, erwarte sie ihn in der Prinzregentenstraße, und es bereitete ihm ein besonderes Vergnügen, gegen halb zwölf in aller Gemütsruhe zu erscheinen. In seinem Gedächtnis brannten die ungezählten Gelegenheiten, da er aus diesem Haus gewiesen worden war, und er genoß diese Situation so sehr, daß er laut vor sich hinpfiff, als er die Treppe hinaufstieg. Grandios, das Leben, einfach grandios!
Daß ihm inzwischen achtzig Prozent gehörten, hatte Felicia schon von Kat erfahren, so daß sie wenigstens kein Erschrecken zeigte. Sein Zuspätkommen kommentierte sie mit hochgezogenen Augenbrauen und würdevollem Schweigen. Wolff grinste. Weiß Gott, die Frau war ein harter Brocken.
»Möchten Sie etwas zu trinken?« fragte sie.
Wolff ließ sich in einen Sessel fallen. »Etwas zu trinken? Sie überraschen mich. Ich
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