Sturmzeit
wußte, worauf das Gespräch hinauslief, machte er einen kühnen Vorstoß. »Die Frage ist doch, haben wir etwas gegen sie in der Hand?«
Er erntete pikierte Blicke, die ihn aber nicht im mindesten irritierten. Er hatte ausgesprochen, was alle dachten, die anderen mußten sich nur erst daran gewöhnen, daß die entscheidenden Worte nun plötzlich im Raum standen.
Der Mann, der immer nervöser mit seinem Bleistift spielte, kehrte an den Tisch zurück. Er sah blaß und angespannt aus.
»Ich denke«, meinte er, »da ließe sich etwas konstruieren. Das geht immer. Notfalls über Marakow... Der ist ein dunkler Fleck auf Maria Iwanownas blütenweißer Weste. Wir sollten mit Dschugaschwili sprechen.«
»Dschugaschwili? Wird er uns helfen können?«
»Er ist Spezialist für solche Fälle. Und eine kommende Größe. Übrigens«, nun fiel der Bleistift auf den Boden und rollte unter einen Schrank, »wir sollten uns daran gewöhnen, daß Genosse Jossif gar nicht mehr Dschugaschwili heißt. Er nennt sich jetzt Josef Stalin.«
»Adolf Hitler«, las Nicola. Der Name stand unter einem Bild, das an einer Litfaßsäule angeschlagen war und einen dunkelhaarigen Mann mit eng zusammenstehenden Augen und einem eigenartigen viereckigen Schnurrbart unter der Nase zeigte.
»Wer ist das?«
»Der Vorsitzende der NSDAP.« Die Stimme von Martin Elias, Nicolas Begleiter, klang so, daß sie sich zu ihm umwandte und ihn fragend ansah. »Und?«
»Diese Partei ist Dreck«, erklärte Martin, »und sie gewinnt zuviel Einfluß in Bayern. Vor zwei Jahren war München noch die Stadt der Bohème, heute ist sie die Stadt nationalsozialistischer Agitation.«
Nicola nickte gläubig. Martin gegenüber kam sie sich immer wie ein dummes, kleines Ding vor. Nicht nur, weil er fünfundzwanzig und damit fast zehn Jahre älter war als sie, er sprach auch immer über weltanschauliche Fragen und Politik und schien alles zu wissen. Auf ihrem täglichen Schulweg war Nicola ihm buchstäblich in die Arme gelaufen. Wie stets hatte sie verschlafen, weshalb sie die Strecke im Galopp zurücklegen mußte, und da sie überdies in eigene Gedanken versunken war, bemerkte sie den jungen Mann nicht, der ihr entgegenkam. Er wich zur Seite, aber sie streifte ihn im Vorbeirennen, und alle ihre Bücher fielen auf den Boden.
»Seien Sie nur froh«, sagte der Mann und kniete nieder, um ihr beim Aufsammeln zu helfen, »daß ich keine Straßenbahn oder etwas ähnliches bin!«
Sie sah ihn an und registrierte ein blasses Intellektuellengesicht, grüne Augen und dunkles Haar, schmale, sensible Hände. Er erwiderte ihren Blick, und es ging ihm wie vielen Männern, wenn sie sich den Frauen ihrer Familie gegenüber sahen: Er konnte sich von ihren grauen Augen nicht mehr losreißen.
»Trinken Sie irgendwo einen Kaffee mit mir?« fragte er, nachdem sie sich beide wieder aus dem Staub der Straße aufgerichtet hatten. Nicola dachte an ihren Französischunterricht und fand, der Tag sei zu schade, um ihn mit unregelmäßigen Verben zu verbringen.
»Gern«, sagte sie und wußte im gleichen Moment; daß sie sich in ihn verlieben würde.
Sie wurde seine Freundin, auf eine keusche,kameradschaftliche Art, die Martin selbstverständlich schien, Nicola jedoch ebensosehr verunsicherte wie frustrierte. Sie hatte die romantische, sinnliche Natur ihrer Mutter geerbt, und Martin erfüllte keinen ihrer geheimen Wünsche.
»Liebst du mich eigentlich?« fragte sie einmal, und Martin lächelte, so hintergründig, als ahne er ihre unausgesprochenen Wünsche. »Natürlich, du Baby«, sagte er, »aber du bist erst sechzehn, verstehst du?«
An seiner Seite tauchte Nicola in eine neue Welt. Martin Elias war der Sohn eines jüdischen Münchener Bankiers, aber er schien wenig Lust zu haben, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Er kam aus dem Schwabinger Künstlerghetto, hatte mit Dichtern wie Eisner, Fechenbach und Toller 1919 für die bayerische Räterepublik gekämpft und war nur im letzten Moment seiner Verhaftung entgangen.
Er nahm Nicola mit, wenn er nächtelang in Schwabinger Kneipen mit seinen Freunden zusammensaß und Worte und Gedanken einer vergangenen Epoche erneut beschwor. Nicola hörte mit großen Augen zu. Was sich da vor ihr auftat, erschreckte und faszinierte sie. Trauer und Melancholie klangen in allem mit. Die Werke, über die man sprach, hießen Menschheitsdämmerung und Weltende, und es fielen Sätze wie:
»Schönheit können wir nur empfinden aus dem Bewußtsein des eigenen
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