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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
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Heimwehkranke beruhigen, Hausaufgaben kontrollieren und Verletzungen verarzten. Selten kam sie dazu, zwischendurch etwas zu essen oder sich einen Moment hinzusetzen. Am meisten belastete sie das Elend, mit dem sie konfrontiert wurde. Viele Kinder waren unterernährt, krank, zeigten Spuren von Mißhandlungen. Sara hatte manchmal das Gefühl, sie müsse an all dem ersticken. Sie war froh, daß sie abends nicht in eine stille, leere Wohnung zurückkehren mußte, sondern - auf Kats Einladung hin in der Prinzregentenstraße wohnen durfte. Auch an diesem Abend öffnete ihr Jolanta freundlich lächelnd die Tür. »Was sehen Sie wieder müde aus, Fräulein Sara!
    Kommen Sie nur schnell herein. Möchten Sie einen Tee?«
    »Ein Tee wäre herrlich.« Sara nahm ihren Hut ab und strich sich die feuchtverklebten Haarsträhnen aus der Stirn. Draußen war es frühlingshaft warm. Sie fühlte sich müde und durstig. Als sie das Wohnzimmer betrat, wandte sich Martin, der vor dem Bücherregal gestanden und in einem Buch geblättert hatte, zu ihr um.
    »Verzeihung«, sagte Sara verwirrt, »ich wußte nicht, daß hier jemand ist. Ich werde meinen Tee woanders...«
    Martin legte das Buch beiseite. »Bleiben Sie doch. Ich warte hier nur auf Nicola. Sie ist noch in der Schule, Musikstunde oder irgend etwas, aber sie müßte jeden Moment kommen.«
    Sara wäre liebend gern wieder verschwunden, aber nachdem Martin sie aufgefordert hatte zu bleiben, wagte sie es nicht, ihm zu widersprechen. Sie setzte sich auf die äußerste Sesselkante und wünschte sich weit weg.
    Martin nahm ihr gegenüber Platz und betrachtete sie prüfend. Er registrierte, daß sie ein schmales Gesicht, etwas zu eng stehende Augen und strenge, schwarze Brauen hatte, eine hohe Stirn und einen Mund, der sich etwas wehmütig nach unten bog. Sie trug ein altmodisches Kleid mit einem altjüngferlichen Spitzenkragen und hatte die braunen Haare glatt und streng zurückgestrichen. Sie verfügte über keines der Mittel, mit denenNicola so verschwenderisch um sich warf, Raffinesse, Charme und Koketterie, aber sie wirkte weder naiv noch weltfremd.
    »Nicola erzählte mir, Sie arbeiten in einem Kindergarten«, sagte Martin, »für Arbeiterkinder. Es würde mich interessieren, welche Erfahrungen Sie dabei machen.«
    Sara sah ihn unsicher an. Sie war es nicht gewöhnt, daß sich jemand für das, was sie tat, interessierte. Sie argwöhnte, Martin habe bloß Mitleid mit ihr. »Nun, es...«, fing sie mit spröder Stimme an, »es...« Wie gewöhnlich geriet sie ins Stottern. Martin neigte sich vor. Er lächelte. »Es interessiert mich wirklich«, sagte er sanft.
    Auf einmal begann Sara zu sprechen, schnell, überstürzt und hastig.
    »Es ist entsetzlich, diese Kinder zu beobachten. Sie bekommen nicht genug zu essen, leben in ungesunden, feuchten Wohnungen, haben viel zu wenig frische Luft. Sie sind bleich, unterernährt, haben kaputte Zähne, viel zu dünne Arme und Beine, kranke Augen, von einem Schleier überzogen. Man kann sich das Elend nicht vorstellen, aus dem sie kommen. Familien mit zehn Personen hausen in einem einzigen Zimmer, in dem gekocht, gegessen, geschlafen und die Wäsche getrocknet wird. Schleppt einer eine Krankheit herein, bekommt sie jeder, und sie wird nie richtig ausgeheilt. Keuchhusten, Diphtherie, Lungenentzündung, Tuberkulose, Hungerödeme. In unserer Republik verhungern täglich Menschen oder nehmen sich das Leben, weil sie nicht weiter wissen. Ich habe nie geahnt, wie groß das Elend ist. Die Väter der meisten Kinder sind arbeitslos, seit langem schon, seit der Krieg aus ist. Sie bringen kein Geld nach Hause, oder nur ganz unregelmäßig. Sie verzweifeln, fangen an zu trinken, tyrannisieren ihre Familien. Wenn sie tatsächlich eine Arbeit bekommen, sind sie so betrunken oder schon so am Ende, daß sie sie gleich wieder verlieren. Die Frauen arbeiten sich halbtot, zuerst daheim für die Familie, dann gehen sie noch putzen oder waschen, um ein bißchen Geld zuverdienen. Die meisten von ihnen werden keine vierzig Jahre alt.« Sara schwieg. Sie hatte noch nie so lange gesprochen. Jetzt erschrak sie über sich selbst. Unsicher stand sie auf. »Ich habe Sie sicher gelangweilt«, sagte sie, »entschuldigen Sie bitte.«
    »Im Gegenteil«, versicherte Martin. Er erhob sich ebenfalls.
    »Denken Sie nicht auch, daß Deutschland nur durch eine radikale Änderung des Systems gerettet werden kann?« fragte er.
    Sara starrte ihn an. »Wovor gerettet?«
    »Vor den Nazis. Ich

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