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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
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ihre nassen Kleider vom Leib streifte, wie sie sich nackt im Rhythmus der Musik vor dem Spiegel bewegte, langsam die Arme hob und ihre Haare löste, die Locken schüttelte, bis sie über die Schultern, den Rücken, die Brüste fielen. Er spürte, wie bei dem Gedanken daran die Innenseiten seiner Hände feucht wurden. Hastig riß er das Telegramm auf. Natürlich, wieder von Kat. Das dritte in dieser Woche. Sie flehte Felicia geradezu an zurückzukommen.
    Irgend etwas passierte dort in München. Er zerriß das Telegramm in hundert kleine Schnipsel und trat ins Eßzimmer, wo die Mädchen schon den Kamin für den Abend geheizt hatten. Nachdenklich sah er zu, wie sich die Fetzen in der Glut krümmten, brannten und zu Asche wurden.

    Es gab nur wenige Minuten am Tag, irgendwann in den späten Nachmittagsstunden, an denen die Sonne das kleine Zimmer in Petrogradskaja Storona erreichte, ein rötlich gefärbtes Rechteck an die Wand malte, die Bücher auf dem Regal streichelte und sich so leise davonmachte, wie sie gekommen war. Es war der Zeitpunkt, zu dem die Wirtin an die Tür pochte und vorsichtig eintrat, eine Kanne Tee und eine Tasse in der Hand. Sie war eine alte Frau, die sich keinen Schritt mehr aus ihrer Wohnung rührte, aber eine Bewunderin alles Romantischen war und in ihrem melancholischen Untermieter all jene Gefühle witterte, die sie nur aus Romanen kannte: Leidenschaft, Liebe, Schmerz und den ungreifbaren Kummer um Verlorenes.
    »Ihr Tee, Monsieur Marakow«, sagte sie. Maksim, der mit Papier und Bleistift bewaffnet in einem Sessel gekauert hatte, erhob sich. In seinem Gang lag ein unsicheres Schwanken. Die Wirtin seufzte. »Nicht so viel Schnaps trinken, Monsieur Marakow. So früh am Nachmittag!«
    »Es ist nicht mehr früh.«
    »Zu früh, um zu trinken.«
    Maksim lächelte. »Ich habe einen schwierigen Artikel zu schreiben. Ich kann mich so besser konzentrieren.«
    Die Wirtin schüttelte den Kopf. Spirituosen zu bekommen, war nicht leicht in dieser Zeit, aber aus geheimnisvollen Gründen gelang es Maksim immer wieder. Er hatte begonnen, kurze Zeitungsartikel zu schreiben, Buch-und Theaterkritiken vorwiegend, und der Chefredakteur eines kleinen Provinzblattes hatte sich dafür interessiert. Seitdem verfügte Maksim wenigstens hin und wieder über ein wenig Geld.
    Er nahm die Teetasse vom Tablett und trat ans Fenster. Es schien, als wolle er noch einen letzten Sonnenstrahl erspähen oder festhalten, aber die Sonne tauchte bereits hinter den Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite unter. Er wandte sich um. »Vielleicht werde ich Petrograd verlassen«, sagte er vage. Die Wirtin hatte so etwas bereits geahnt. »Wohin wollen Sie gehen?«
    »Ich weiß noch nicht. Weit fort jedenfalls. Fort von hier.«
    »Sie haben für dieses Land gekämpft!«
    »Trotzdem... ist es jetzt nicht mein Land. Nicht mehr und nicht weniger, als es das vorher war.«
    »Sie sollten sich eine neue Frau suchen!« Die Wirtin hatte Sinn für das Praktische. Maksims Blick ging an ihr vorbei, irgendwohin in die Ferne, so, als habe er diese letzten Worte nicht gehört. Gedankenverloren griff er nach der Schnapsflasche. Die Wirtin schnappte sie ihm weg. »Nein! Jetzt nicht. Sie trinken erst einmal eine Tasse heißen Tee, dann sieht die Welt gleich ganz anders aus.«
    »Ich fürchte, das tut sie nicht«, meinte Maksim bitter, »das tut sie nie. Es können Kriege kommen und Revolutionen und neue Ideen und Systeme - und die Welt bleibt sich gleich. Wissen Sie weshalb? Weil hinter der schönsten und kühnsten Idee nur der Mensch steht, und der bleibt immer gleich erbärmlich, immer.«
    »Ja ja...« Das Gespräch drohte auf eine Ebene zu geraten, auf der sich die Wirtin nicht zu Hause fühlte. »Haben Sie vor, nach Deutschland zu gehen?« fragte sie rasch.
    Maksim hob die Schultern. »Vielleicht. Ja, vielleicht gehe ich zurück nach Deutschland. Nicht, daß ich es liebe, aber es liegt eine gewisse Ironie darin, zum Ursprung zurückzukehren mit nichts in den Händen. Und jetzt«, er griff nach der Flasche,»müssen Sie mir doch noch einen Schluck erlauben. Wir trinken auf... auf diese beschissene Konstruktion, die unserem Leben zugrunde liegt.«

    Sara hatte eine Stelle in einem Münchener Kindergarten für Arbeiterkinder angenommen, was bedeutete, daß sie von morgens sieben Uhr bis zum Abend zweiundfünfzig Kinder beaufsichtigte, schreiende Kinder, lachende, weinende, tobende, aggressive. Sie mußte Streithähne auseinanderzerren,

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