Sturmzeit
früh.«
Gertrud, die gerade mit Modeste die Treppe hinaufkam, schrie auf. »Das darfst du nicht«, rief sie, und ihrem Gesicht war anzusehen, daß sie bereits überlegte, wie ihr die Rolle der angstvoll daheim wartenden Soldatenfrau stehen würde, »ich sterbe vor Angst, wenn du das tust!«
»Ja, Vater, du mußt bleiben!« bat auch Modeste und hängte sich an seinen Arm. Victor blickte äußerst heroisch drein. »Der Ernst der Stunde erfordert von jedem Mann die höchste Treue zu seinem Vaterland«, verkündete er, »und Tapferkeit von jeder Frau. Rußland hat Österreich den Krieg erklärt.«
Einen Moment schwiegen alle, dann fragte Modeste: »Aber was hat das mit uns zu tun?«
Felicia sah sie verächtlich an und blies ihr boshaft eine Rauchwolke ins Gesicht. »Deutschland hat ein Bündnis mit Österreich«, sagte sie, »und wenn Österreich mit Rußland Krieg führt, dann tun wir das auch.«
Victor, der das gern selber und in viel gewählteren Worten einem Auditorium aufgeregt lauschender Frauen erklärt hätte, bedachte seine Nichte mit bösen Blicken. »Ich möchte jedenfalls, daß ihr alle mit nach Königsberg kommt«, sagte er, »hier ist es nicht sicher genug für euch.«
»Und wer sorgt für das Gut?« erkundigte sich Laetitia.
»Der Verwalter. Die Knechte.«
Laetitia lachte. »Glaubst du, die bleiben einen Tag länger als wir? Wenn die nur das Wort Russe hören, laufen die davon. Außerdem ist Ferdinand nicht reisefähig. Und ohne ihn gehe ich nicht.«
»Damit will sie uns nur zwingen, auch zu bleiben«, schimpfte Gertrud, »aber ich packe sofort meine Koffer, darauf könnt ihr Gift nehmen!«
»Ich auch«, echote Modeste.
Laetitia sah Felicia an. »Felicia...
Felicia dachte nach. Mit Victors Sippe nach Königsberg - eine gräßliche Vorstellung! Mit Gertrud und Modeste in einem Hotel, womöglich sogar in einem Zimmer... dann schon lieber heim nach Berlin!
Laetitia erhob sich und richtete sich zu ihrer zarten Größe von einem Meter sechzig auf. »Also gut«, sagte sie, »Victor verteidigt die Heimat, Gertrud und Modeste verbarrikadieren sich in Königsberg, Großvater und ich halten hier die Stellung. Und Felicia, du reist nach Berlin. Da gehörst du hin!«
Obwohl sie das gerade selber noch gedacht hatte, protestierte Felicia sofort. »O nein, Großmutter. Ich gehe nicht. Ich bleibe hier bei euch auf Lulinn.«
»Nein, Kind. Wir sind keine sechzig Kilometer von der russischen Grenze entfernt, und wenn es zum Krieg kommt, dann geht es hier als erstes los.«
»Ja. Und deshalb lasse ich euch nicht allein!«
»Mir alter Frau werden sie nichts tun. Aber für dich ist es nicht ganz ungefährlich. Bitte, fahr nach Berlin!«
Felicia dachte an die zahllosen Schreckensgeschichten, die man ihr von den Russen, den »slawischen Horden«, erzählt hatte. Aber neben der Furcht erwachte ein neues, bisher unbekanntes Gefühl in ihr, etwas ganz und gar Fremdes, das sie mit einem leisen Staunen, aber ohne Zögern hinnahm: Es war ein Treuegefühl gegenüber ihrer Familie und gegenüber Lulinn. Es verwirrte sie, weil sie in ihrem Leben nichts getan oder gedacht hatte, was nicht auf irgendeine, noch so unbewußte Weise selbstsüchtig gewesen wäre. Zum ersten Mal verspürtesie eine Verantwortung, die stärker war als alle eigennützigen Triebe. Die Abendsonne fiel durch das hintere Flurfenster, ließ Laetitias weißes Haar aufleuchten und machte die Ahnenbilder entlang den Wänden bunt und lebendig.
Felicia lächelte ihrer Großmutter zu. Ja, Lulinn und seine Geschichte waren es wert, jetzt nicht fahnenflüchtig zu werden.
4
Im Telegraphenamt in Berlin war die Hölle los. Tausende drängten sich vor den Schaltern, mit jeder Minute kamen mehr hinzu. Draußen auf den Straßen sausten Autos mit Offizieren darin herum, überall sah man Soldaten, von denen manche die deutsche Fahne schwenkten oder zusammenstanden und »Heil dir im Siegerkranz« sangen.
Männer, Frauen, Kinder, Bürger und Arbeiter, Reiche und Arme standen in bunten Gruppen beieinander, redeten, gestikulierten, überschrien sich gegenseitig. Die ganze Stadt war auf den Beinen, und über allem stand strahlend die Augustsonne und verwandelte die Straßen in einen glühendheißen Kessel, in dem trotz der fortgeschrittenen Nachmittagsstunde noch kein kühlerer Wind den Abend ankündigte.
Seit einer halben Stunde war Deutschland im Krieg. Elsa hatte sich im Telegraphenamt bis zu einem Schalter vorgeboxt, mit einer Härte, die man ihr kaum zugetraut
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