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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
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hätte. Ihre chronische Melancholie ließ sie stets sanft und überzart erscheinen, aber bei allem war sie doch Laetitias Tochter, und es gab Stunden, da schlug dieses Erbe durch.
    So auch heute. Dieser Tag, der erste August 1914, forderte alle Kraft von ihr.
    Rudolf, ihr Mann, konnte nicht aus seiner Praxis fort; er hatte sie nur bekümmert angesehen und gesagt: »Das Wartezimmer ist bis auf den letzten Platz besetzt. Ich kann die Patienten nicht einfach nach Hause schicken. Elsa, ich weiß, unserer geliebten Felicia wird nichts geschehen.«
    Wenn ich das auch glauben könnte, dachte Elsa.
    Glücklicherweise fand sich Linda bereit, sie zu begleiten. Linda war am Tag zuvor in einer kleinen, hastigen Zeremonie
    Johannes' Frau geworden; ihre Flitterwochen hatten genau zwölf Stunden gedauert, dann kam sein Einberufungsbefehl, und Johannes mußte sich unverzüglich in seine Garnison im Westen begeben. Linda hatte ihn zum Zug begleitet, war dann in Tränen ausgebrochen und zu Elsa geeilt, der sie nun wie ein kleiner, bleicher Schatten auf Schritt und Tritt folgte.
    Die dritte im Bunde war ein dunkelhaariges, dunkeläugiges Mädchen, Sara Winterthal, die mit Felicia und Linda zur Schule gegangen war. Sara galt unter ihren Freundinnen als graue Maus, weil sie blaß, schüchtern und unscheinbar war, aber sie besaß die Gabe einer fast zur Hellsichtigkeit entwickelten Intuition und eine große innere Kraft, was weniger egozentrische Personen als Felicia und Linda sicher bemerkt hätten. Sie behandelten sie immer ein wenig herablassend und hatten noch nicht begriffen, daß sie da war, wenn Hilfe gebraucht wurde - so wie jetzt.
    Elsa klammerte sich am Schaltertisch fest und wehrte sich beharrlich gegen einen groben, dicken Mann, der sie fortzustoßen versuchte. An ihren Händen traten die Knöchel hervor, ihr Gesicht war bleich und die Augen dunkel umschattet.
    »Ich muß unverzüglich ein Telegramm aufgeben!«
    Der Beamte, der aussah, als werde er vor Hitze und Nervosität gleich wahnsinnig, schüttelte bedauernd den Kopf. »Nichts zu machen. Für Zivilisten geht nichts mehr. Der Telegraphendienst steht ausschließlich dem Militär zur Verfügung.«
    Elsas Augen wurden noch größer. »Aber das ist unmöglich. Ich muß nach Insterburg telegraphieren, sofort! Meine Tochter sitzt dort oben, fast ganz allein!«
    Einige Leute blickten sie mitleidig an. Die arme Frau, jetzt, wo die Kosaken kamen! Es kursierten bereits die wildesten Gerüchte über Greueltaten an der Grenze, und jeder Deutsche blickte heute angstvoll nach Ostpreußen, wo der Krieg seinen Anfang nehmen mußte.
    »Muß gar nicht so schlimm werden, gute Frau«, tröstete ein Mann, »ich sag immer, was ein richtiger, deutscher Soldat ist, der läßt überhaupt keinen Russen rein ins Land.«
    »Ich glaube auch nicht, daß die Russen so schlimm sind, wie immer behauptet wird«, meinte ein anderer, aber für diese Bemerkung erntete er zornige Blicke. Man brauchte einen Feind, und man konnte die nicht leiden, die zu beschwichtigen versuchten.
    »Man drückt uns das Schwert in die Hand«, hatte der Kaiser gestern vom Balkon des Schlosses aus gesagt, und die Menge hatte gejubelt. Ja, das Schwert ergreifen und losschlagen, das wollten sie alle, und zwar lieber heute als morgen. Elsa hatte den ganzen Tag über schon die wilde Kriegslust der Menschen gespürt, als sie mit tausend anderen vor dem Schloß gestanden und angstvoll die Zeiger der Uhr beobachtet hatte. Seit gestern gab es ein deutsches Ultimatum an Rußland mit der Aufforderung, die Truppen entlang der österreichischen Grenze unverzüglich abzuziehen. Um zwölf Uhr mittags lief das Ultimatum ab, ohne daß aus Petrograd eine Antwort gekommen wäre. Gerüchten zufolge waren russische Kavallerietrupps bereits da und dort über die deutsche Grenze vorgedrungen und hatten in kleinen Dörfern schaurig gewütet. Eine unverhohlene Gier lauerte in den Menschen. Die Spannung der letzten Wochen war zu groß gewesen, jetzt mußte das Gewitter losbrechen, weil kaum mehr Luft zum Atmen da war. Wer praktisch dachte, lief zu den Banken, denn es hieß, an der Börse sei der Teufel los und das Geld sei jetzt im Strickstrumpf unter dem Bett sicherer als im Tresor. Irgend jemand versuchte Elsa Kriegsanleihen zu verkaufen, aber sie hörte kaum hin. Sie hielt die Hände ineinander verkrampft, wischte sich nur hin und wieder den Schweiß von der Stirn und dachte im übrigen an ihre Kinder. Johannes war auf dem Weg nach Westen, wo die

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