Sturmzeit
logisch die Chancen ihres Aufstieges und Niederganges diskutieren konnte. Seine Furcht vor Hitler basierte auf klaren Überlegungen, ihrer hingegen lag ein Gefühl zugrunde, das sie quälte, weil sie ihm nicht sachlich begegnen konnte. In ihrer Angst lag eine unbestimmte Todesahnung.
Sie und Martin waren seit einer Woche verheiratet, und auf Felicias telefonische Bitte hin bewohnten sie das Haus in der Prinzregentenstraße, das sonst leergestanden hätte. Im Grunde blieb ihnen auch nichts anderes übrig, denn Martin nahm kein Geld mehr von seinem Vater und verbrachte seine Zeit damit zu schreiben, vor allem Gedichte, die niemand veröffentlichte. Sie lebten praktisch allein von Saras Gehalt, aber Martin tröstete sich damit, daß seine Stunde kommen würde. »Ich arbeite an einem Roman, Sara. Ich bin überzeugt, daß ich dafür einen Verleger finden werde, und dann sind wir alle Sorgen los.«
Als sie sich dem Haus näherten, gewahrten sie einen Schatten vor der Tür. Ein Mann stand dort, machte ein paar unschlüssige Schritte hin und her, sah an der Hauswand hinauf, schien sich aber nicht entschließen zu können zu klingeln - verständlich, denn es war bereits nach Mitternacht. Er schrak zusammen, als Sara und Martin auf ihn zukamen. »Suchen Sie jemanden?«erkundigte sich Martin.
Das Gesicht des Fremden blieb im Dunkeln. »Verzeihen Sie«, sagte er höflich, »mein Zug ist vor einer halben Stunde in München angekommen, daher die ungewöhnliche Besuchszeit. Ich... äh, bin ein alter Freund der Familie Lombard. Wissen Sie, ob Fräulein Kassandra Lombard noch in diesem Haus lebt?«
Die Stimme rief eine Erinnerung in Sara wach. Wo nur... Noch während sie grübelte, trat der Fremde einen Schritt vor. Der Schein der Straßenlaterne erfaßte sein Gesicht, und im gleichen Augenblick schrie Sara auf. »Phillip Rath!« sagte sie fassungslos. Phillip packte ihre Hand. »Sara! Mein Gott, dann muß ich hier richtig sein. Ach, Deutschland, München, Sara!«
Er zog sie in die Arme. Sie konnte es noch immer kaum glauben.
»Wo warst du nur all die Jahre, Phillip?«
»Ich werd's euch erklären. Meint ihr... wir können Kat wecken? Sie wohnt doch noch hier?«
Acht Jahre, dachte Sara verzweifelt, nach acht Jahren kommst du wieder und erwartest, daß alles ist, wie es war!
Sie schloß die Haustür auf. »Komm erst einmal herein«, sagte sie und schaltete das Licht an.
Das Telegramm erreichte Felicia auf Skollna, wo sie sich inmitten einer der zermürbenden Diskussionen mit Benjamin befand. Sara teilte ihr darin in dürren Worten mit, Phillip sei aus Frankreich zurückgekehrt; sein langes Untertauchen sei offenbar auf einen schweren seelischen Schock zurückzuführen. Es habe eine kurze Begegnung mit Kat gegeben, dann habe Phillip München mit unbekanntem Ziel verlassen.
Mehr sagte Sara nicht, und mehr gab es auch nicht zu sagen. Felicia ließ die Arme sinken, das Telegramm flatterte ihr aus den Händen, sie schien so verstört, daß Benjamin beunruhigt fragte: »Schlechte Nachrichten?«
Felicia antwortete nicht. Sie trat ans Fenster und blickte hinaus in den silbrigen Dezemberrauhreif. Ihr war kalt, und sie begriff, daß sie allein war. Sie war in eine Welt vorgedrungen, in der hoch gepokert wurde, und sie wußte, daß keiner ihrer Freunde ihr dorthin folgen würde. Fröstelnd hob sie die Schultern. Sie sehnte sich nach der Wärme lang vergangener Tage; sie sah in den grauen Himmel und sehnte sich nach dem Schrei der heimkehrenden Wildgänse, die den Frühling brachten.
IV. BUCH
1
Vierundzwanzig junge Mädchen mit langen Beinen, dunkelroten Lippen und falschen silbernen Wimpern marschierten in kurzen Röckchen zackig über die Bühne, knallten ihre roten Stiefel auf die Bretter, schwenkten die Hüften, rissen die Arme hoch, präsentierten großzügig jede einzelne Linie ihrer schönen Körper und blieben mit dem letzten Ton der Musik stramm stehen, verbeugten sich und strahlten. Der Schmuck an Hals, Ohren und Armen glitzerte im Scheinwerferlicht. Der Direktor, in Frack und Zylinder, trat vor, wies noch einmal mit einer weitausholenden Gebärde auf seine zugkräftigste Nummer und brüllte: »Diiiiiiiiie Tiller-Girls!«
Das Publikum im Admiralspalast auf der Friedrichstraße tobte. Begeisterter Applaus füllte den Saal, schrille Pfiffe und Hochrufe erklangen. Von allen Seiten hagelte es Komplimente, und irgendwo in einer der hinteren Ecken formierte sich ein Chor angetrunkener Männer, der zwar falsch, aber dafür um
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