Sturmzeit
so lauter das heißgeliebte Lied der Berliner schmetterte: In der Nacht, wenn die Liebe erwacht...
Die Luft waberte von Zigarettenqualm, vermischt mit dem Geruch nach Alkohol und Parfüm. Schmuck, falscher und echter, funkelte, nackte Arme und Beine leuchteten hell, junge Männer in weißen Anzügen und mit kleinen runden Hüten auf dem Kopf wippten auf ihren Stühlen, andere schlürften mit schwermütigen Mienen ihre Champagner-Cocktails. Über allem lag die Stimmung eines rauschhaften, fast provokanten Lebensgenusses.
Das neue Lebensgefühl befahl, jeden Tag und jede Nacht bis zum äußersten auszukosten und zu genießen, weil morgen schon alles vorbei sein konnte. Man war nicht mehr romantisch, nicht sentimental, nicht beschaulich. Man war wild, frech, zynisch,frivol und spritzig. Und Berlin leuchtete in allen Farben. Die zwanziger Jahre, dachte Maksim, eine verdammt komische Angelegenheit.
Er schlürfte seinen Drink zu Ende - irgend etwas mit Pfefferminz -, stand auf, drückte seinen Hut tief ins Gesicht und schwankte leicht. Waren ein paar Gläser zuviel gewesen heute abend. Er hatte sich im Tauentzienpalast den Film »Die freudlose Gasse« mit Greta Garbo angesehen, war dann in einer zweitklassigen Revue gelandet, weitergezogen in ein Kabarett, wo er reichlich Sekt brauchte, um die dargebotenen Witze lustig finden zu können, und hatte schließlich zum dritten Mal in dieser Woche den Admiralspalast aufgesucht, um die TillerGirls über sich ergehen zu lassen. Es war fast zwei Uhr, und er wollte ins Bett. Morgen früh um acht hatte er einen Termin beim Lokalanzeiger, und es würde wahrscheinlich nicht den besten Eindruck machen, wenn er dort völlig übernächtigt und verkatert auftauchte.
Er trat auf die Friedrichstraße hinaus und wurde kurz hintereinander von zwei Prostituierten angesprochen, von denen er die eine kaum mehr loswurde. Sie lief ihm nach und beteuerte, sie habe sich in sein schwermütiges Gesicht verliebt und es sei ihr tödlich ernst. Maksim schlug seinen Mantelkragen hoch und erklärte der jungen Frau, sie sei nicht sein Typ. Als er weitergehen wollte, stieß er mit einer Dame zusammen.
»Pardon«, sagte er.
»Macht nichts«, entgegnete die Dame. Es war Felicia. Es war der 30. November 1925, und sie rekonstruierten später, daß es fast auf den Tag genau acht Jahre her war, daß sie einander zuletzt gesehen hatten. Sie erkannten jeder den anderen sofort, und es verwirrte und erheiterte sie, daß sie sich nach all den Jahren nachts um zwei auf der Berliner Friedrichstraße zwischen einem halben Dutzend Huren treffen mußten. Maksim hatte noch immer das schwerverliebte Mädchen mit denStöckelschuhen am Arm, und Felicia war in Begleitung eines sehr distinguiert wirkenden Herrn, der einen Modesalon besaß und einen weißen Seidenschal um den Hals trug. Er musterte Maksim feindselig. »Maksim Marakow - Harry Morten«, stellte Felicia vor, ohne den Blick von Maksim abwenden zu können. Maksim sah sie ebenso fasziniert an. Nach dem ersten blitzartigen Erkennen stellte er fest, daß sie sich völlig verändert hatte. Das kurze Haare, die in die Stirn gekämmten Locken machten eine völlig fremde Frau aus ihr. Trotz aller Schminke sah sie abgekämpft und müde aus. In Gedanken rechnete er schnell nach und kam zu dem überraschenden Ergebnis, daß sie fast dreißig Jahre alt sein mußte.
»Ich habe die Sowjetunion verlassen«, sagte er, was, da er mitten in Berlin stand, nicht gerade geistreich klang.
»Russe?« fragte Harry Morten mit hochgezogenen Augenbrauen. Es reizte Maksim. »Bolschewik«, erklärte er. Die Hure machte drei Schritte zurück, Harry sagte gedehnt: »Ohhh...« Das Ende vom Lied war, daß Harry Morten mit der Prostituierten davonzog, ohne recht zu begreifen, wie er dazu gekommen war, und Maksim und Felicia fanden sich in der nächsten Kneipe wieder, wo sie einen süßen Likör tranken, einem heiseren Sänger lauschten, der einen Schmachtfetzen nach dem anderen trällerte, und einander in die Augen sahen, Erinnerungen fanden und die Jahre zu begreifen versuchten, die sie sich nicht gesehen und die sie verändert hatten. Maksim hatte noch immer das blasse, schmale Gesicht von früher, daneben entdeckte Felicia Anzeichen, die verrieten, daß er zuviel trank. Er hatte Schatten unter den Augen, sein Gesicht war schlaffer, müder geworden. Auf seinen Wangen lag der Schimmer eines Bartes. Mehr noch als zuletzt in Reval durchzog Enttäuschung sein ganzes Wesen, zu keinem Moment konnte
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