Sturmzeit
Du armer Junge, ich fürchte, meine Felicia ist deine Tragödie.
»Auf Kosten anderer?« wiederholte sie scharf. »Ja, vielleicht manchmal auch auf Kosten anderer. Das geht womöglich Hand in Hand mit dem Vermögen, andere zu schützen. Soll ich dir sagen, was diese - zugegeben, völlig eigensüchtige, egozentrische - Frau schon alles geleistet hat? Abgesehen davon, daß sie Lulinn dem unfähigen Victor abgeluchst und damit mir und ihrer Mutter Elsa ein sorgenfreies Alter gesichert hat, abgesehen davon, daß sie ihrem Bruder Jo das Studium finanziert hat und ihrer Cousine Nicola eine gute Schulausbildung, abgesehen davon war sie es auch, die meine todkranke Tochter Belle durch das brennende Rußland schleppte, damals, in den Jahren der Revolution, als ihnen die Bolschewisten auf den Fersen waren und sie fürchten mußte, als deutsche Spionin verhaftet zu werden. Sie hätte sich die Erde da drüben leichter und schneller von den Füßen schütteln können, aber sie ist bei Belle geblieben. Sie blieb bis zu ihrem letzten Atemzug. Und Jahre vorher, 1914, als die Russen in Ostpreußen einfielen und alle sich davonmachten, da konnte ich nicht weg, weil mein Mann schwer krank war. Die ganze Familie, die Dienstboten, alle sind sie mit schlotternden Knien abgereist, bis auf Felicia. Sie blieb, und während oben ihr Großvater starb, ging sie allein die Treppe hinunter, den russischen Soldaten entgegen, und sie scheuchte die schwerbewaffneten Kerle davon wie eine Schar Hühner. Du kannst sie selbstsüchtig nennen, unkonventionell, eigenwillig und skrupellos, aber du kannst dir in einem auch sicher sein: Sie ist eine absolut loyale Person, und wenn es hart auf hart käme, wenn ihr sie wirklich brauchtet, du und die Kinder, sie wäre hier und würde sich vor euch stellen, und gnade Gott euren Feinden!«
Laetitias Augen blitzten. Sie hatte sich in Fahrt geredet, etwas von ihrem eigenen jugendlichen Geist war in ihrem alten, hinfälligen Körper erwacht und wärmte ihn wie ein Feuer. Doch es sprang kein Funke auf Benjamin über. Er war gut und sauber wie klares Quellwasser, das den Grund unverschleiert nach oben spiegelt, und der widersprüchliche, wilde, hungrige Geist von Frauen wie Felicia und ihrer Großmutter war ihm fremd. Ihn verlangte nach Ruhe, Wärme und Geborgenheit, nach dem Glanz der Abendsonne auf den Kiefern von Skollna, nach dem Duft des Heus, nach dem Zirpen der Grillen. Felicia drohte ihm seine Welt zu zerstören, weil sie ihn zwang, in eine andere zu blicken, die er nicht verstand und von deren Existenz er nichts wissen wollte. Und er begriff: Sie liebte ihn nicht.
»Laetitia«, sagte er, »ich muß die Wahrheit wissen: Gibt es einen anderen Mann für Felicia?«
Davon war Laetitia überzeugt, aber sie sah Benjamin an, und ihr war klar, daß er belogen werden wollte.
»Sie lebt für ihre Arbeit«, sagte sie, »daneben gibt es nichts.«
Die Wolken waren herangezogen, verdunkelten den Himmel. Regen sprühte gegen die Scheiben. Benjamin stand auf. Plötzlich wußte er, daß Laetitia log. Das Entsetzen brach jäh über ihn herein, vergleichbar nur mit dem Grauen, das sich seiner bemächtigt hatte, als er 1915 zum ersten Mal im Nahkampf vor der unausweichlichen Situation gestanden hatte, einem russischen Soldaten sein Bajonett in den Leib rammen zu müssen. Er erinnerte sich, daß es ihm gewesen war, als durchbohre das blitzende Eisen sein Fleisch, als sei er es, der auf regennasser Erde sein Blut verströmte. Das gleiche Gefühl überkam ihn jetzt - sterbenselend zu sein, und doch voller Verwunderung den eigenen, gleichmäßigen Atemzügen zu lauschen. Der Unterschied war, daß er sich damals an die Vision hatte klammern können, die vielen Soldaten die Kraft zum Durchhalten gegeben hatte: Es würde vorübergehen, und er würde nach Hause kommen, und die alte, freundliche Welt würde sich auftun, ihn wieder in ihre sanften Arme zu schließen. Diesmal gäbe es keine alte Welt, nur eine feindselige, unwägbare Finsternis.
Zum erstenmal, so hell, schnell und vergänglich wie ein Blitz, kam ihm der Gedanke, daß es schön sein müsse, den Boden unter den Füßen zu verlieren, sich fallen zu lassen und zu wissen, daß Angst und Kampf für alle Zeiten vorüber waren.
»Ich muß heim zu den Kindern«, sagte er leise und verließ das Zimmer. Laetitia sah ihm nach, trommelte unruhig mit den Fingern auf eine Stuhllehne. Dann ging sie zum Telefon und ließ sich mit dem Adlon in Berlin verbinden. An der Rezeption teilte
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