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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
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schon glaubte, es sei für immer verloren. Felicia, glaubst du, es ist möglich, ein zweites Mal im Leben ganz von vorne anzufangen, trotz aller Erfahrungen und Enttäuschungen, und trotz des Wissens, daß man klein und sterblich ist?«
    Sie setzte sich auf, legte ihre Hand auf seinen Arm.
    »Natürlich ist es möglich«, sagte sie, »natürlich!«

3

    »Der Rhein. Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze.«So lautete das Thema der schriftlichen Abiturprüfung in Deutsch, mit dem sich Nicola fünf Stunden lang herumschlagen mußte. Sie kaute verzweifelt an ihrem Federhalter, während sie sich Wort um Wort aus den Fingern saugte. Es war Ostern 1928, und es war, als habe der Sommer schon begonnen. Warme Sonne lag über Berlin, in allen Vorgärten leuchteten Tulpen, Narzissen und Veilchen, und die samtige Luft war erfüllt vom Summen der Bienen. Die Sonne fiel auch durch die hohen Fenster des Klassenzimmers und zeichnete helle Kringel auf die Tische. Nicola seufzte und warf einen sehnsüchtigen Blick nach draußen.
    Was für ein absolut idiotisches Thema, dachte sie, ich habe den Rhein nie gesehen, und es ist mir ganz egal, wo Deutschlands Grenzen liegen!
    Ihre Gedanken schweiften ab. Zu Sergej, ihrem neuen Freund, Exilrusse, mit dem sie gestern die halbe Nacht hindurch im Rio Rita am Kurfürstendamm getanzt hatte. Elsa war natürlich dagegen gewesen, daß Nicola am Tag vor ihrer ersten Abiturprüfung abends ausging, aber Nicola hatte erklärt: »Ich werde viel besser sein, wenn ich mich nicht den Abend lang hier totlangweile!«
    Elsa hatte ihr nachgesehen, wie sie davontrippelte, gehüllt in eines ihrer obskuren Seidenfähnchen, ein Netz aus Silberlamé eng um den Kopf gezogen. Als sie nach Hause kam, war es drei Uhr morgens, und als sie um sieben geweckt wurde, war sie so verschlafen, dass sie beschloß, auf ihr Abitur zu verzichten. Diesmal aber ging Elsa auf die Barrikaden. Es entspann sich eine lange, hitzige Diskussion, in deren Verlauf Nicola zumindest wach wurde.
    »Wozu brauche ich das blöde Abitur? Ich heirate Sergej und führe ein sorgloses Leben!«
    »So etwas Dummes habe ich noch nie gehört! Vor dem Krieg, da hat man noch so geredet, aber die Zeiten haben sich geändert. Was weißt du, wie die Zukunft aussehen wird und ob du immer einen Mann haben und versorgt sein wirst? Meine Generation wurde noch so erzogen, dann kam der Krieg, und wir standen hilflos vor den Trümmern. Die modernen Frauen sollten daraus gelernt haben!«
    »Ich will nichts lernen. Ich will leben.«
    »Um zu leben, wirst du auf eigenen Füßen stehen müssen.«
    Widerwillig machte sich Nicola schließlich auf den Weg, getröstet nur durch die Tatsache, daß das Ende ihrer Schulzeit in greifbare Nähe gerückt war.
    Sergej wartete um ein Uhr vor dem Schultor. Er war ein großer junger Mann mit Samtaugen und einem phantastischen Akzent, den er sehr pflegte und den Nicolas Freundinnen als überaus sinnlich bezeichneten. Er ging nur ganz gelegentlich seinem Beruf nach - er hatte irgend etwas mit Immobilien zu tun- und war im übrigen in sich selbst unsterblich verliebt. Er trug spitze Schuhe, auffällig gemusterte Krawatten und dandyhafte Hüte. Heute hatte er Nicola zur Feier des Tages einen großen Blumenstrauß mitgebracht.
    »Wie war es, Kleines?« fragte er zärtlich.
    »O schrecklich! Reaktionär und hoffnungslos langweilig. Ich fürchte, meine Arbeit wird nicht mehr ausreichend sein.«
    »Mach dir nichts draus. Vergiß es einfach. Wir gehen jetzt erst mal Tennis spielen!«
    Sergej war Mitglied im berühmten Tennis-Club Rot-Weiß und fuhr wenigstens dreimal in der Woche hinaus an den Hundekehlensee im Grunewald, wo Rot-Weiß seinen Platz hatte.
    »Ich weiß nicht«, meinte Nicola zögernd, »morgen ist Latein dran, und...«
    Sergej verzog das Gesicht.
    »Latein! Wie kann man an einem solchen Frühlingstag an Latein denken!«
    »Aber dann muß ich heute abend...«
    »Heute abend«, sagte Sergej und zog sie an sich, »gehen wir ins Barberina!«
    Das Barberina war eines der teuersten und mondänsten Tanzhäuser, und Nicola liebte es heiß. Während in ihr noch Pflichtbewußtsein und Vergnügungssucht miteinander rangen, hörte sie plötzlich von hinten ihren Namen.
    »Nicola von Bergstrom?«
    Sie drehte sich um. Hinter ihr stand Benjamin Lavergne. Er trug einen schlechtsitzenden grauen Anzug, einen altmodischen Hut und an den Füßen zwei verschiedenfarbige Strümpfe. Sein zerknittertes Gesicht war von gespenstischer Blässe.

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