Sturmzeit
Nicola hatte ihn nur drei-oder viermal im Leben gesehen, dennoch erschrak sie über sein Aussehen. Neben dem gepflegten Sergej wirkte er wie ein Wesen aus einer anderen Welt.
»Wer ist denn das«, fragte Sergej auf russisch und zog eine Augenbraue hoch.
»Der Mann meiner Cousine«, entgegnete Nicola, ebenfalls auf russisch, »ich frag' mich, was der hier will!«
»Nicola, ich habe den ganzen Vormittag über vor der Schule gewartet, sagte Benjamin. Seine Stimme zitterte. »Du... du kommst spät!«
»Abitur«, entgegnete Nicola lässig. Sie warf die schwarzen Haare zurück. »Was kann ich für dich tun, Benjamin? Weshalb bist du überhaupt in Berlin?«
»Ich muß unbedingt mit Felicia sprechen.«
»Du hättest anrufen können.«
»Es ist zu wichtig. Außerdem erreiche ich sie nie. Es geht um... um Belle, Felicias Tochter...«
»Belle? Was ist mit ihr?«
»Bitte, Nicola, wo ist Felicia?«
Nicola zögert. Sie hatte Felicia in den vergangenen Jahren mindestens zweimal in der Woche mit Maksim in einem Nachtclub oder in einer Bar getroffen, und so wußte sie von dem Verhältnis zwischen den beiden. Sie wußte sogar, wo Maksim wohnte, denn im vergangenen Sommer hatte sie ihn einmal mit Felicia im Taxi abgeholt, weil sie alle zusammen an den Wannsee hinausfahren wollten. Im Grunde wußte Nicola alles über diese Liaison und doch nichts; in jedem Fall war ihr aber klar, daß Benjamin nicht unbedingt eingeweiht werden mußte.
»Nicola, in Gottes Namen, sag mir, wo ich sie finden kann!
Bitte!«
»Nun ich...«
Benjamins Gesicht wurde noch grauer, seine Lippen fahl.
»Nicola, du mußt nicht... ich meine... ich weiß von diesem anderen Mann...«
»Oh...« Das hätte Nicola nicht gedacht. Woher, in Teufels Namen, weiß er das? überlegte sie. Allmählich fürchtete sie, er könne jeden Moment umfallen, er sah ganz danach aus. Wenn etwas Schlimmes mit Belle war, dann mußte Felicia das erfahren.
»Können wir nicht endlich gehen?« murrte Sergej.
»Gleich. Benjamin, wenn es wirklich so wichtig ist...« Nicola nannte Maksims Adresse.
Auf Benjamins Stirn standen Schweißperlen.
»Danke, Nicola«, er wandte sich abrupt ab und stieg in ein wartendes Taxi. Nicola sah ihm nach.
»Hoffentlich habe ich keinen Fehler gemacht...«
»Kommst du jetzt oder nicht?«
»Er wird Maksim doch nicht erschießen?«
»Der nicht«, erwiderte Sergej voller Überzeugung, »der hat kein heißes, russisches Blut. Der erschießt höchstens sich selber!«
Nicola lachte hell.
»Und da trifft er noch daneben. Komm, laß uns fahren!«
Sie stiegen in das schicke, weiße Cabrio, und Sergej startete mit quietschenden Reifen.
Es dauerte eine Weile, bis Benjamin herausgefunden hatte, daß Maksim Marakow im Hinterhaus wohnte - eine Tatsache, die er nie in Erwägung gezogen hätte. Als er den Namen nicht fand, dachte er zuerst, die Schlange Nicola hätte ihn angelogen, und wieder brach ihm der Schweiß aus. Als er endlich durch den schmutzigen Hof zum Hinterhaus ging, war es ihm, als seien seine bösesten Träume Wirklichkeit geworden. Maksim Marakow... der Name hatte etwas von einem Spuk, von Geistern, die immer neu erstanden. Der Rivale aus Vorkriegstagen, der Rivale auch jetzt noch. Und der Sieger. Seinen Trick hatte Nicola nicht durchschaut, Gott sei Dank. Seine Behauptung, er wisse sowieso alles, war ein kluger Schachzug gewesen, das und seine gespielte Angst um Belle. Wie damals, als er Kats Briefe abgefangen hatte, konnte er auch diesmal keinen Triumph wegen seines listenreichen Vorgehens empfinden. Mit zitternder Hand strich er sich über die Stirn. Lieber Gott, wäre dieser Tag erst vorüber!
Eine dicke Frau, die das Treppenhaus putzte, musterte ihn mißtrauisch. »Wo woll'n Sie denn hin?« fragte sie und starrte auf seine verschiedenfarbigen Strümpfe.
»Zu Maksim Marakow«, krächzte Benjamin. Er hatte wederseine Hände noch seine Stimme unter Kontrolle.
»Der is' nich' da«, teilte ihm die Frau mit.
»Oh... dann... werde ich warten, wenn Sie erlauben.«
»Bitte sehr!« Sie ließ ihn an ihrem Putzeimer und Schrubber vorbeibalancieren und rief ihm noch nach: »Dritter Stock, zweite Tür links!«
Es gab kein Namensschild an dieser Tür, doch Benjamin war sicher, die richtige Wohnung gefunden zu haben. Er kauerte sich auf die gegenüberliegende Treppe, betrachtete das abgeblätterte Holz an der Tür und die abgerissenen Tapeten ringsum und fühlte sich kalt und leer.
Er saß Stunde um Stunde. Ein paarmal kamen Kinder vorbei und
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