Sturmzeit
Beweis gab, den auf dem Schlachtfeld! Sie waren jung, sie waren stark und gesund, und die Jahre in der Kadettenschule hatten Patriotismusund Hingabe in ihnen gesät; eine Saat, die nun schneller und heftiger aufging, als das jemand vorausgesehen hatte. Lieber sterben, als noch länger Sonntag für Sonntag in den stillen, bürgerlichen Straßen von Lichterfelde herumzutrotten.
»Mein Vormund schreibt, er kann es gar nicht erwarten, mich unter den Helden von Frankreich zu sehen«, sagte Jorias, »wir dürfen uns nur vor nichts fürchten. Meinst du, das gelingt uns?«
Ein alter Mann, der gerade vorbeischlurfte und diese Worte gehört hatte, blieb stehen. Seine Augen unter den buschigen Brauen funkelten zornig. »Diese verdammte Liebe zum Tod«, sagte er, »o Gott, diese verdammte Liebe zum Tod, mit der sie euch verseucht haben!«
Er wurde überschrien von einem Herrn am Nebentisch, der seiner Begleiterin soeben lautstark erklärte: »Die englische Seeblockade kann uns völlig kaltlassen, meine Liebe. Die wollen Deutschland von den Rohstoffmärkten abschneiden, aber sie unterschätzen unsere Industrie. Kein chilenischer Salpeter mehr zur Herstellung von Munition? Wozu Chile? Unsere Chemiker entwickeln ihn eben selber! Erst heute früh las ich, daß ein entsprechendes Verfahren kurz vor dem Abschluß
stehen soll!«
Sein Blick fiel auf Christian und Jorias. Wohlwollend betrachtete er ihre Kadettenuniformen. »Das ist Deutschlands Zukunft! Na, Jungs, wann geht's raus nach Frankreich?«
»So bald wie möglich.«
»So ist es recht. Haltet euch nur an das leuchtende Beispiel unseres großen Helden, des Siegers von Tannenberg, unseres hochverehrten Herrn Generalfeldmarschalls von Hindenburg!«
Der Mann war sehr laut geworden, seine Stimme erzitterte vor Rührung. Einige Umsitzende applaudierten, als der Name Hindenburg fiel.
Christian und Jorias sahen einander an. »Weißt du was?«
fragte Jorias leise. »Ich habe plötzlich das Gefühl, daß wir vielälter geworden sind. Seitdem der Krieg ausgebrochen ist, ist auch mit uns etwas geschehen. Ich denke manchmal an den letzten Sommer in Lulinn. Ich glaube, das war das letzte Mal, daß ich mich jung gefühlt habe.«
Die Schneeflocken fielen langsam und sacht vom Himmel und breiteten sich als samtiger, weißer Teppich über die Straßen und Plätze Berlins. Alle Geräusche klangen gedämpft, der Himmel hing in schweren, grauen Wolken tief über der Stadt. Fröstelnd zog Linda die Bettdecke bis unter das Kinn. Ihre Augen folgten Johannes, der aufgestanden war und sich anzuziehen begann. Erst als er in seiner Uniform dastand und den Pistolengurt umschnallte, richtete sie sich auf. »Mußt du wirklich nach Frankreich zurück?«
Er sah sie an. »Weihnachten ist vorüber. Andere haben überhaupt keinen Urlaub bekommen.«
»Aber es war so kurz.«
»Ich weiß. Ich gehe ja auch nicht gern.« Johannes setzte sich auf den Bettrand und strich mit einem Finger sacht über Lindas Augenbrauen. Linda betrachtete ihn verwundert. Er schien so ernst... »Hast du Angst?« fragte sie.
Johannes mußte lächeln. Er dachte an das, was man ihm seit seinem elften Lebensjahr beigebracht hatte: Der deutsche Soldat kennt keine Angst!
»Angst«, wiederholte er bedächtig, »ich weiß nicht. Die Angst wurde mir allzu gründlich ausgetrieben. Aber ich kann keine Begeisterung empfinden, ich konnte das nie. Die Kadettenschule ist eine Sache, der Krieg eine andere. Von Anfang an ist mir klargewesen, daß ich auf Menschen würde schießen müssen. Aber manches konnte ich mir nicht vorstellen. Als wir durch Belgien marschierten... Linda, ich habe gesehen, wie Zivilisten erschossen wurden. Alte Menschen, Frauen, Kinder, auf Marktplätzen zusammengetrieben und erschossen. Ein paardeutsche Soldaten waren aus dem Hinterhalt getötet worden, und, weiß Gott«, ein bitterer Zug verhärtete seinen Mund, »wir haben uns gründlich revanchiert. Als Löwen in Flammen aufging und die Schreie der Menschen durch die Nacht hallten, da... da wäre ich am liebsten davongelaufen. Mit jedem Tag wachsen meine Zweifel, Linda, und ein Soldat, der einmal angefangen hat zu zweifeln, ist ein schlechter Kämpfer!« Seine Stimme verlor sich, schweigend hing er Bildern und Erinnerungen nach. Scheu hob Linda die Hand, strich ihm über den Arm. Er zuckte zusammen und betrachtete das zarte, hübsche Gesicht seiner Frau, die kleine Nase, den weichen Mund, die großen, kindlichen Augen. Seine Worte hatten sie erschreckt, das begriff
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