Sturmzeit
sieh mich an. Mein Leben lang war es mein Unglück, daß mich jeder niedliche Backfisch für eine antiquierte Ausgabe seines Vaters hielt, und das einzige Mal, wo mir meine Falten etwas nützen könnten, rechnen die kühl auf mein Geburtsjahr zurück und erklären mir dreist: ›Sie sind jung, stark und gesund, Domberg!‹ Ha, gesund! Die sollten sich mal meine Leber anschauen. Die hab' ich seit zwanzig Jahren keineSekunde verschnaufen lassen! Na ja - ich verrecke sowieso mal am Alkohol«, setzte er düster hinzu.
»Nein. Wenn du zurückkommst, machst du eineEntziehungskur.«
»Gott, Elsa, sag so was nicht! Ich werfe mich ja noch freiwillig vor eine Kanonenkugel. Weißt du, was das schlimmste ist? Daß sie mich nach Frankreich schicken! Ich soll auf Franzosen schießen, ich, Leopold! Ich liebe die Franzosen. Ich habe tausend Freunde in Frankreich. Jacques und Pierre und ich, wir haben Paris unsicher gemacht, und das war meine tollste Zeit!« Sein schwermütiges Gesicht erhellte sich. »Die schönen Pariser Frauen! Ich sage dir, Elsa, keine war vor uns sicher. Da gab es dieses Etablissement am Montmartre von Madame Daphne. Daphne hatte blondes Haar und einen Körper, der...«
Ein Blick auf das Gesicht seiner Schwester ließ ihn sich unterbrechen. »War jedenfalls eine verdammt schöne Frau«, vollendete er unbestimmt.
»Du wirst sie eines Tages wiedersehen, Leo.«
»Meinst du? Denkst du nicht auch, daß nach diesem Krieg nichts mehr so sein wird, wie es war? Ob ich wohl noch einmal abends durch den Bois schlendern und diese herrliche, einzigartige unverwechselbare Luft von Paris atmen kann? Ach, und die Kneipen, die Künstlerlokale, mon dieu, da haben wir vom Rotwein gelebt! Die Cafés auf den Champs-Élysees! Und«, er verzog genießerisch das Gesicht, »wenn Mutter mir wieder heimlich Geld geschickt hatte, dann gab es Champagner. Champagner soviel jeder wollte. In einer einzigen Nacht haben wir alles verpraßt, und am Morgen war ich wieder bettelarm, nicht reicher als die Spatzen, die von den Brotkrumen leben, aber das war das Leben, das war mein Leben, meine Leidenschaft! Paris, Champagner und die Liebe...« Er lauschte seinen Worten nach, dem verklingenden Echo einer fernen Zeit.
»Verfluchte Scheiße«, sagte er müde. Elsa zuckte zusammen, wies ihn aber nicht zurecht. Er nahm die Füße vom Tisch, standruhelos auf. »Tu mir einen Gefallen, Elsa, geh nach Lulinn. Du hältst es nicht aus, hier allein zu warten, auf Nachricht von deinem Mann, von Jo, von Christian, von Felicia! Hast du je begriffen, weshalb sie plötzlich Krankenschwester werden mußte?«
»Nein.«
Er neigte sich über sie, seine Augen blickten sie freundlich und verständnisvoll an. »Geh nach Lulinn. Was immer zwischen dir und Mutter war, es ist lange vorbei. Sie mag eine herrschsüchtige Tyrannin sein, aber sie liebt dich. Sie liebt uns alle!«
Elsa wandte ihr Gesicht ab.
Nichts war vorbei, nie würde es vorbei sein.
Sie hatte ihre Ferien in Ostpreußen verbringen können, zum Teil der Kinder wegen, zum Teil wohl auch aus Sentimentalität. Lulinn, die Heimat. Sie stöhnte unhörbar. Sie konnte und wollte den Abgrund nicht überqueren, der zwischen ihr und Laetitia lag, und ginge sie jetzt heim, dann täte sie damit den entscheidenden Schritt. Sie und ihre Mutter, zwei Frauen, die beieinander saßen und auf das Ende des Krieges und auf Nachrichten von der Familie warteten. Sie mußten einander näherkommen, aus der gemeinsamen Angst würde vielleicht eine neue Innigkeit wachsen.
»Das ist unmöglich«, sagte sie. Leo sah sie erstaunt an. »Was? Daß Mutter uns liebt?«
»Nein. Ich meine, es ist unmöglich für mich, nach Lulinn zu gehen. Bitte, Leo, dräng mich nicht!«
Leo wechselte das Thema. »Schreibt Felicia hin und wieder?«
Elsa schien erleichtert. »Ja, ganz treu alle drei Wochen. Sie hat es tatsächlich erreicht, im Osten in demselben Lazarett Dienst tun zu können wie ihr Vater. Kat ist auch bei ihr, ihre Schwägerin, weißt du. Ich glaube nicht, daß Felicia ihrenAufgaben gern nachkommt, aber...«
»Es gibt weiß Gott Schöneres für ein junges Mädchen!«
»Aber sie tut wohl alles, was man ihr aufträgt. Wenn es nicht so gefährlich wäre und ich nicht solche Angst um sie hätte, würde ich sagen, daß es ihr bestimmt nichts schadet. Ach, sie hätte...«
Leo betrachtete sie aufmerksam. »Sie hätte bei ihrem Mann bleiben sollen, meinst du?«
Elsa zögerte. Doch vor ihrem jüngeren Bruder hatte sie beinahe nie
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