Sturmzeit
den Kaiser...«
Pflicht und Schuldigkeit, Pflicht und Schuldigkeit..., die Granate schlug ein, ein ganzes Stück entfernt diesmal, jedoch nicht weit genug, daß die Schreie eines von Splittern Getroffenen nicht durch das ohrenbetäubende Krachen und den wabernden Rauch ringsum herübergeklungen wären. Er schrie,schrie schrill und verzweifelt, er schrie keine Worte, sondern stieß bloß die entsetzten, durchdringenden Laute eines schmerzgepeinigten Tieres aus.
Christian kauerte sich zusammen. Wieder schwappte die Angst wie eine Welle über ihn weg und spülte alles fort, was ihn sieben Jahre Kadettenschule gelehrt hatten. Wie immer in solchen Momenten, da er sich seiner Angst hilflos ausgeliefert fühlte, suchte Christian nach der Begeisterung mit der er nach Frankreich gefahren war, nach dem eigenartigen, wilden, warmen Schauer, der sein Blut hatte rascher pulsieren lassen, als sie zwischen Fähnrichexamen und Truppe noch durch eine rasche Feldausbildung auf dem Kasernenhof getrieben worden waren. »Leeeeegt an! Feuer!!« Wenn doch, verdammt noch mal, irgendwo etwas von dieser heißen Vorfreude wäre, vielleicht ließe ihn das die Angst vergessen.
»Ich muß immerzu an Lulinn denken«, hatte Jo zwei Abende zuvor gesagt, als sie sich ein Stück hinter der Front trafen und brüderlich eine Zigarette teilten, »ist es nicht verrückt? Mir fliegen die Kugeln um den Kopf, und es ist, als gehe die Welt unter, und ich sehe immer Lulinn vor mir, wie eine Vision, eine Verheißung. Dieses stille, friedliche Land, in das ich zurückkehren möchte!«
Ich wünschte, ich könnte an Lulinn denken, dachte Christian verzweifelt, ich wünschte, ich könnte an irgend etwas denken außer an meine Angst.
Der Kamerad fünfhundert Schritte entfernt schrie noch immer, ohne daß seine Schreie auch nur im mindesten schwächer wurden. Christian hatte plötzlich die furchtbare Vorstellung, es könne Johannes sein. Wenn es Jo war, der dort litt... wie so oft, seit er hier war, wünschte er, keine Brüder und Freunde hier draußen zu haben. Es machte alles noch schlimmer, gab der Angst eine weitere Dimension, der Phantasie einen größeren Spielraum.War es noch sinnvoll, daß er eine Gewehrsalve nach der anderen abgab? Er sah nichts, schoß blind in die Gegend. Schon wieder nachladen. Er kramte die Munition hervor. Neben ihm kniete Max, ein schwäbischer Pfarrerssohn. Er betete ununterbrochen, den ganzen Tag schon, und seine murmelnde Stimme zerrte an Christians Nerven. Manchmal schien es ihm, als habe Max bereits den Verstand verloren. Er konnte kein Gebet, keinen Psalm, kein Lied mehr zusammenbringen, sondern stammelte nur unzusammenhängende Textzeilen.
»Befiehl du deine Wege...«
»Dein ist das Reich...«
»Und ob ich schon wanderte im finstern Tal...«
»In der Welt habt ihr Angst, doch...«
Christians Gedanken konnten sich dem monotonen Sprechen nicht entziehen, unwillkürlich vollendete sein Geist die Fetzen, die ihm hingeworfen wurden. In der Welt habt ihr Angst, doch sehet, ich habe die Welt überwunden. Nein! Er mußte sich dagegen wehren. Betete er das erst, dann war alles verloren. Gebete waren für die Toten.
Aber mit irgend etwas mußte man sich beschäftigen. Jorias hatte ihm erzählt, daß er die Worte der lateinischen Dichter hersagte, die sie in der Schule hatten lernen müssen. »Gallia est omnis divisa in partes tres...«
Die Franzosen schienen einen neuen Vorstoß zu versuchen, denn ein wahres Bombardement von Kugeln und Granaten setzte ein, und es gab keine Unterbrechung mehr dazwischen. Christian schnappte erschrocken nach Luft, rang um Atem, versuchte sich in der Dunkelheit zu orientieren. Er konnte nichts und niemanden mehr sehen, und einen grauenhaften Moment lang überfiel ihn die Vorstellung, alle seien tot und er als einziger übrig geblieben. Dann spürte er einen lebendigen Körper dicht an seinen gepreßt. Jorias' keuchende Stimme sagte:
»Christian, bist du es? Du, ich hab' was abbekommen, einenSplitter oder so was. Ich kann nichts fühlen, aber ich habe es gemerkt.«
»Wo ist denn Max?« fragte Christian, dem aufging, daß die Gebete geendet hatten. »Er war neben mir.«
»Hier liegt einer. Ich glaube...« Jorias' Stimme wurde übertönt vom ohrenbetäubenden Bellen heranrückender Gewehre. Christians Finger fühlten sich feucht an.
»Zurück!« brüllte jemand. Es war Hauptmann von Stahl, der Kompanieführer, dessen Stimme seit Tagen heiser war und nur noch mit äußerster Anstrengung die
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