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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
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Schmerzes und Entsetzens gestürzt hätte. Nachher würde das Begreifen über ihn herfallen und ihm für alle Zeiten den Frieden und die Zärtlichkeit rauben, die Merkmale seines Wesens und seiner Jugend gewesen waren und die er sich bis zu dieser Stunde bewahrt hatte. Doch das Nichtbegreifen ließ ihn den Schützengraben erreichen, und als er glaubte, daß ihn nun alle Kraft verließe, war er angekommen, und irgend jemand zog ihn hinunter in die Deckung, ein anderer nahm ihm Jorias ab. Christian vernahm, lauter als den Lärm des Kampfes, seinen eigenen keuchenden Atem. Er vermochte nichts zu sagen, betrachtete nur Jorias' Gesicht. Jemand hatte ihn auf den Rückengelegt, so daß er ihn ansehen konnte.
    Unter Ruß und Staub hatte dieses Gesicht keine Farbe mehr, es war weiß bis in die Lippen, grau um die Augen. Es wirkte entspannt, so ruhig, als sei der Tote ein Schläfer. Zugleich schien er sehr jung, nun, da die Anspannung der vergangenen Tage aus seinen Zügen gewichen war, und so verletzlich, wie es nur ein Schlafender sein kann.
    Ein paar Haarsträhnen fielen in seine Stirn, genauso wie in all den Nächten, in denen er neben Christian geschlafen hatte, in ihrer Stube in der Kadettenschule und in der kleinen Dachkammer mit den schrägen Wänden und geblümten Tapeten auf Lulinn.
    Es war eine kurze, rasche Abfolge von Bildern, die an Christian vorüberzog, jedes einzelne nur für Sekunden wie von einem Blitz erhellt, ehe es wieder in den Schatten tauchte, Bilder einer Kindheit und Jugend, die er mit Jorias geteilt hatte, gedankenlos, fröhlich, in der sicheren Gewißheit, daß das Leben immer so sein würde, und sie endeten jäh und immer wieder an der Stelle, die Christian nicht begreifen konnte und die später in den Chroniken der Familie Leonardi in den dürren Worten festgehalten sein würde:
    Jorias Leonardi, gefallen am 24. Februar 1916 bei Verdun.

    Die Augen des Mannes waren groß und fiebrig. Sein Mund hatte sich vor Schmerz zu einer grotesken Form verzerrt. Er hielt Felicias Arm so fest umklammert, daß sie sich auf die Lippen beißen mußte, um nicht zu schreien. »Hier, bitte, nehmen Sie meinen anderen Arm«, murmelte sie gepreßt, als sie meinte, es nicht länger aushalten zu können, aber er schien sie gar nicht zu hören, sondern grub seine Finger nur noch tiefer in ihre Haut. Er stieß ein heiseres Gebrüll aus, als ihm das Messer des Arztes ins Bein schnitt. Die Kugel saß tief, und das Gewebe ringsum hatte sich schon entzündet und eiterte. Sie mußteheraus, daran hatte keiner der Ärzte einen Zweifel gelassen. Außer den Verwundeten selber schien es niemanden zu kümmern, daß dank der miserablen Versorgungslage Morphium und Chloroform ausgegangen waren und für heute jeder Patient jeden Eingriff ohne den Anflug einer Betäubung über sich ergehen lassen mußte.
    »Morgen kriegen wir Nachschub«, hatte eine Schwester gesagt.
    »Und warum, verdammt, könnt ihr mir dann die elende Kugel nicht morgen rausholen?«
    »Das schaffen Sie nicht. Es muß jetzt sein.«
    Er hatte sich Felicia erbeten, sie sollte seine Hand halten. Wie die meisten Soldaten in diesem gottverlassenen Lazarett irgendwo in der Gegend von Czernowitz war er in sie verliebt. Sie war die Hübscheste von allen, und sie schien unfähig, mit einem Mann zu sprechen, ohne mit ihm zu flirten. Sie war verheiratet, aber daran dachte sie in den seltensten Momenten, daher gab es für die Männer ebenfalls keine Veranlassung, daran zu denken. Man verzieh ihr gern, daß sie wenigkrankenschwesterliche Qualitäten vorweisen konnte und sich vor Blut, Läusen, Dreck, zerfetzten Gliedmaßen und Geschrei unverhohlen grauste.
    Der Soldat auf dem Operationstisch suchte durch den Schleier hindurch, der erster Vorbote einer Bewußtlosigkeit war, Felicias graue Augen, gewahrte Entsetzen, Mitleid darin, und - fast etwas wie Abscheu.
    Er fiel in Ohnmacht, ehe er das Geheimnis von Felicias Augen ergründen konnte.
    Felicia registrierte erleichtert, daß der eisenharte Druck um ihren Arm nachließ. Sie wandte sich zu ihrem Vater. »Ich glaube, er ist ohnmächtig geworden, Vater.«
    Dr. Degnelly sah kurz auf. »Das ist das beste, was ihm passieren konnte. Bis er aufwacht, sind wir fertig.«
    Armer Papa, er sieht so müde aus, dachte Felicia zärtlich. Ihr Vater hatte kaum eine Rolle gespielt in ihrem Leben, ein sanfter, stiller Mann, dessen Ehe der gescheiterte Versuch war, eine Frau, die ihn nicht liebte, von ihrer Melancholie zu heilen. Immer wenn Felicia

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