Sturmzeit
seine müden Augen sah, kam es ihr schuldbewußt in den Sinn, wie sorgfältig sie selbst darauf achtete, soviel Bequemlichkeit wie möglich zu finden. Es fiel ihr so schwer, sich aufzuopfern, und lieber heute als morgen wäre sie abgereist - wenn nicht ihr Stolz sie zurückgehalten hätte. Vor niemandem mochte sie klein beigeben, nicht vor Alex, nicht vor ihrer Mutter, am wenigsten aber vor Papa, der mit gebeugtem Rücken und dunklen Schatten unter den Augen Tag und Nacht seinen Pflichten nachkam. Sie hoffte stets, er werde nicht merken, wie halbherzig sie der guten Sache diente. Wie viele sehr wissenschaftlich orientierte Menschen zeigte Dr. Degnelly in mancher Hinsicht eine erstaunliche Naivität. Es wunderte ihn nicht, daß Felicia Dienst an der Front tat, dabei hätte er sie gut genug kennen müssen, um zu wissen, daß eine solche Arbeit nicht im mindesten zu ihr paßte. Ihm kam gar nicht in den Sinn, daß in der Ehe seiner Tochter einiges nicht zum besten stehen mochte. Hin und wieder erkundigte er sich zerstreut nach Alex: »Wie geht es ihm? Was ist los in München?«
Felicia gab nicht zu, daß sie keine Briefe von Alex erhielt - sie schrieb ihm ebenfalls nicht -, und murmelte irgend etwas. Ihr Vater war ohnehin meistens zu erschöpft, um genau zuzuhören. Er lächelte, müde und abwesend, und sagte: »Ich bin froh, daß du da bist, Kleines. Es tut gut, einen vertrauten Menschen um sich zu haben.«
Sie nahm ihn dann in die Arme und zog ihn an sich, und er lehnte seinen Kopf an ihre Schulter, als finde er dort einen Platz zum Ausruhen. Und wenn sie seine grauen, dünnen Haare betrachtete, ging ihr auf, daß die Jahre an ihm gezehrt und seine Kraft verbraucht hatten.
Nie konnte sie ihn ansehen, ohne sich nicht zugleich der engen Frist bewußt zu sein, die das Leben ihnen allen setzte. Sie hätte ihr Gesicht gern an seiner Brust geborgen, während ihr der verzweifelte Gedanke durch den Kopf schoß: Es ist alles schiefgelaufen. Nichts geht so, wie ich es wollte. Dieser verdammte Krieg!
Sie hatten das Haus in der Prinzregentenstraße zusammen verlassen, Felicia, Kat und Sara. Sara war glücklich, weil die anderen ihren Bitten endlich nachgaben. Kat wunderte sich über Felicias Entschluß, aber sie ging mit, weil sie nicht allein zurückbleiben, zur Schule gehen und auf Phillip warten wollte.
»Wenn er in den Krieg zieht, kann ich es auch«, sagte sie,»wenn er keinen Weg findet, mit Vater wegen uns zu sprechen, kann er nicht erwarten, daß ich ewig zu Hause sitze und mir die Augen ausweine!« Hinter ihren Worten lagen Angst und Resignation. Sie hatte nicht aufgehört, Phillip zu lieben, aber jeder Tag, der verging, erschien ihr wie das Näherrücken eines unbestimmbaren Unheils. Darüber sprach sie nicht mit Felicia, ebensowenig wie die ihre Sorgen den anderen mitteilte. In beiden Mädchen war das Bedürfnis, zusammenzusitzen und über alles zu reden, erloschen. Ihren geheimsten Kummer hüteten sie verbissen.
Kat hatte es geschafft, ebenfalls ihren Dienst in Galizien tun zu dürfen, hauptsächlich deshalb, weil sie und Felicia schon während der kurzen Ausbildungszeit in München immer wieder versichert hatten, keine ginge irgendwohin ohne die andere. Vor ihrer Zähigkeit kapitulierte man. Übrig blieb Sara, die an die Westfront geschickt wurde. Felicia brachte sie an den Bahnhof, und das letzte, was sie von ihr sah, war ein trauriges Gesicht mit einem Rußfleck auf der Nase, was ihr ein melancholisches, etwas groteskes Aussehen gab.
Felicia hatte die langgestreckte Baracke verlassen, in der dieVerwundeten lagen und wo hinter einer spanischen Wand die Operationen durchgeführt wurden. Sie rieb ihr rotes, schmerzendes Handgelenk und atmete tief die reine Abendluft. Die Sonne stand schon weit im Westen, aber es war immer noch recht heiß. Ein trostloser Landstrich, dieses Galizien, fernab von aller Welt, ein Ort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen und wo jeder Soldat es als Strafe empfand, seinen Dienst tun zu müssen. »Wer den Krieg verliert, bekommt Galizien«, hieß es in defaitistischen Kreisen, ein Ausspruch, der eine traurige Absurdität aus der Tatsache gewann, daß es ausgerechnet hier war, wo die halbe österreichisch-ungarische Armee geschlachtet wurde.
Vom nahen Fluß erhob sich ganz sacht ein leiser Wind. Felicia sah zum Himmel. Wenn es doch endlich einmal Regen gäbe oder ein kräftiges Gewitter! Wenn nur diese unerträgliche Hitze aufhörte!
Sie hätte sich so gern ein schönes, leichtes
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