Sturmzeit
Ausdruck der Unnahbarkeit auf Felicias Gesicht. Was immer in diesen Minuten mit ihr geschah - keinen Menschen auf der Welt ließ sie daran teilhaben.
Es war Zufall, daß Alex und Onkel Leo sich an der Westfront trafen, in einem kleinen Dorf an der Somme. Alex war gerade zum Major ernannt worden und übernahm das Kommando über das Bataillon, dem Leo angehörte. Und gleich am ersten Tag kam es zu einem Zwischenfall, als nämlich Leo während eines Gefechtes auf Alex' Befehl hin, die Gräben zu verlassen und vorzustürmen, hinter seinen Schutzwall gekauert sitzen blieb und verwundert seine unkontrolliert zitternden Hände betrachtete.
»Komm mit!« schrie Alex durch das ohrenbetäubende Gewehrfeuer hindurch. »Mach schon!«
»Ich kann nicht«, sagte Leo. Vergeblich versuchte er, seine Hände zu Fäusten zu ballen. »Meine Beine zittern genauso wie meine Hände. Ich kann nicht laufen.«
Durch das kurze Zögern hatte Alex den entscheidenden Moment des Stürmens verpaßt. Der Feind feuerte nun wie wild. Kurzentschlossen rutschte er zu Leo in den Graben. Er zog seine Schnapsflasche hervor. »Nimm einen Schluck. Das passiert uns allen mal, daß wir hier die Nerven verlieren.«
Durch den Rauch sahen sie einander an, und in beider Mienendämmerte Verstehen. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich vorzustellen, Herr Major«, sagte Leo, »ich bin Leopold Domberg.«
»Domberg? Sie sind...«
»Felicia Degnellys Onkel, ja. Wir lernten uns bei Ihrer Hochzeit mit meiner Nichte kennen. Haben aber nur kurz miteinander gesprochen.«
»Unser heutiges Treffen scheint mir weniger romantisch«, sagte Alex, »was ist, schaffen Sie's jetzt bis zum nächsten Graben?«
Leo nahm noch einen tiefen Schluck. »Natürlich, Herr Major«, entgegnete er fröhlich.
Sara war so etwas wie der Mittelpunkt des Lazaretts. An ihr konnte niemand vorbei, und auch ältere Schwestern holten sich immer wieder Rat bei ihr. Sie flößte Vertrauen ein und strahlte eine Ruhe aus, wie sie keiner sonst in diesen fürchterlichen Tagen an der Somme aufbrachte. Es gab nicht genug Betten, die Gänge standen voller Bahren, die Schwestern mußten über die Verwundeten hinwegturnen und sich nicht selten aus den eisenharten Umklammerungen ihrer hilfesuchenden Hände freikämpfen. Die Schlacht an der Somme hatte sich zu einer der schrecklichsten Materialschlachten des Krieges entwickelt. Französische und englische Divisionen versuchten die deutsche Front zu durchbrechen, ohne aber einen entscheidenden Sieg zu erringen. Es blieb bei einem gnadenlosen Gemetzel auf beiden Seiten. Die Männer starben zu Tausenden, meist unter furchtbaren Qualen. Und die Überlebenden würden für ewig gezeichnet bleiben. Zerschossene Gliedmaßen, verbrannte Augen, verwirrte Gemüter, es gab kaum einen, der ohne Verletzungen blieb. Es gab wenig Linderung für sie. Sara betete oft um etwas Chloroform. Chloroform, nur ein bißchen für die Amputationen wenigstens, bitte lieber Gott!
Sara, die schüchterne Sara, die es nie gewagt hatte, laut ihre eigene Meinung zu äußern, zeigte plötzlich eine Kraft und Tapferkeit, die niemand in ihr vermutet hätte. Sie hielt alle Fäden in der Hand, widerspruchslos fügte man sich ihrer sanften Stimme. Selbst wenn an einem Tag vier Transporte mit Schwerverletzten kamen, die Luft widerhallte von ihren Schreien und süßlich roch nach Blut, wenn die Verwundeten vor der Tür liegen mußten, weil drinnen kein Platz mehr war, wenn die Hälfte der Schwestern ausfiel, weil sie vor Überanstrengung, wegen der Hitze oder einfach aus Entsetzen ohnmächtig wurden, dann behielt Sara eisern die Nerven. Rasch, umsichtig und gewissenhaft tat sie, was getan werden mußte, und daß sie kaum noch eine Nacht schlief, merkte man höchstens daran, daß sie von Tag zu Tag bleicher und dünner wurde. Jeder liebte und bewunderte sie - und beides, sowohl Liebe als auch Bewunderung, war neu für sie. Manchmal kam ihr voller Schrecken - und Reue - der Gedanke, daß alles wieder anders würde, wäre erst der Krieg vorbei. Sie konnte es sich kaum mehr vorstellen, in den farblosen Alltag zurückzukehren, der sie selbst unweigerlich wieder zur Farblosigkeit verdammen würde. Die Wahrheit zu erkennen, schien ihr fast sündhaft, und sie versuchte, so selten wie möglich daran zu denken: Sie brauchte den Krieg. Ihre Qualitäten, die jetzt so hochgerühmt wurden, brauchten den Hintergrund eines flammenden Weltunterganges. Angstvoll fragte sie sich, wie es ihr gelingen sollte, sich
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