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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
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auf ihren Arm. »Natürlich. Hätte ich einen Grund, Ihnen Märchen zu erzählen?«
    Er meinte es tatsächlich ernst.
    Hier draußen verschoben sich die Dinge. Er bewunderte Sara, weil sie eine Arbeit tat, die er um keinen Preis hätte tun wollen, aber ihm war klar, daß ihn seine Vorliebe für üppige Blondinen einholen würde, kaum wäre er wieder in Berlin. Doch Berlin war fern. Das alte Leben war weit weg.
    Eines Abends traf er Sara nicht an, was ihn überraschend heftig berührte, denn seine Kompanie hatte für den nächsten Morgen Einsatzbefehl in vorderster Frontlinie.
    Sie rückten erst nach drei Tagen wieder ins Quartier ein, reichlich dezimiert, todmüde und kaputt. Leo flüchtete sich abends zu der Linde vor dem Lazarett und merkte, daß er sich nach Saras sanfter Stimme sehnte, nach ihrem zarten Gesicht. Sie stand schon da, als er kam. »Gott sei Dank«, sagte sie hastig, »ich hatte Angst, daß...«
    »Unkraut vergeht nicht. Aber wo waren Sie neulich? Ich habe auf Sie gewartet.«
    Sara nickte. »Ich hatte einen Zusammenbruch. Angeblich passiert das hier jedem mal. Die Nerven, wissen Sie...«
    »Ich verstehe.«
    »Manchmal dauert es so furchtbar lange, bis ein Sterbender wirklich stirbt. Sie schreien wie Tiere in einer Falle. Sie leiden so sehr. Und manchmal denke ich dann...« Sie brach ab und sahan Leo vorbei irgendwohin in die Dunkelheit. Leo drehte sie vorsichtig zu sich hin. »Was denken Sie, Sara?«
    »Nichts.« Ihre Stimme war sehr leise geworden. »Nichts, was man aussprechen dürfte. Es wäre eine Lästerung des Kaisers.«
    »Er ist bezeichnenderweise nicht hier. Also reden Sie.«
    »Nein...«
    »Sara, wenn Sie mir nicht sagen, was Sie denken, wem dann?«
    Sie schlug die Augen nieder. »Manchmal denke ich, dieser ganze Krieg ist ein einziger Irrsinn!« Gleich darauf taten ihr diese Worte leid, schnell umfaßte sie Leos Hand. »Oh, Leo, wie taktlos von mir! Wie taktlos und gemein. Sie kämpfen, und Sie sehen Ihre Freunde sterben, und ich komme daher und sage, das sei alles Irrsinn! Oh, bitte, verzeihen Sie mir! Seien Sie nicht gekränkt!«
    »Ich bin nicht gekränkt. Nein, Sara, wirklich nicht. Sehen Sie, ich denke wie Sie, Irrsinn ist das, Wahnsinn, ein Verbrechen. Jawohl, ein Verbrechen an der Menschheit, am Leben, an Gott, und es...«
    »Leo, um Himmels willen!«
    »Sara, hören Sie mir zu. Ich habe nie anders gedacht. Und deshalb will ich weg von hier. So schnell wie möglich.«
    »Weg? Aber Sie sind verrückt, Sie...«
    »Ich bin nicht verrückt. Verrückt ist, wer bleibt. Hier werde ich sterben, durch eine fremde oder meine eigene Kugel. Ich habe nichts zu verlieren, und ich habe eine winzige Chance, Sara.« Er machte eine kurze Pause, um mehr Eindringlichkeit in seine Worte zu legen, »Sara, würden Sie versuchen, mir Zivilkleidung zu beschaffen?«

    Das Lager, in das man die Gefangenen aus dem Lazarettzug brachte, lag nur wenige Kilometer nordwestlich von Moskau und bestand aus einer Anzahl kleiner Holzhütten, die von einem Stacheldrahtzaun umgeben waren. Scharen von Menschen, hauptsächlich deutsche oder österreichische Kriegsgefangene, drängten sich in diesem primitiven Dorf, in dem es eine Großküche und eine Baracke mit viel zu wenig Toiletten gab. Jener große militärische Vorstoß der Russen im Sommer 1916, der als die Brussilow-Offensive berühmt und berüchtigt werden sollte, hatte 200000 Gefangene gebracht, und die Lager quollen über. Dadurch, daß mehrere Lazarette und Lazarettzüge erbeutet worden waren, befanden sich eine ganze Anzahl Frauen unter den Gefangenen, Krankenschwestern vor allem, die dringend gebraucht wurden.
    Felicia und Kat waren in eine Baracke eingewiesen worden, die für dreißig Frauen vorgesehen war, aber bereits fünfzig beherbergen mußte. Am Ende des Raumes gab es ein kleines, vergittertes Fenster, das nicht geöffnet werden konnte und dessen Scheiben verdreckt und verklebt waren. Entlang den Wänden und in der Mitte standen jeweils eine Reihe doppelstöckiger Betten. Jede Frau bekam etwas Stroh und eine alte Wolldecke. Im übrigen hatte aber keineswegs jede Frau ein eigenes Bett.
    »Seht zu, wie ihr klarkommt«, sagte die Aufseherin, die muskulös war wie ein Mann und recht gut deutsch sprach,»müßt eben zusammenrücken!«
    Felicia und Kat teilten sich ein Lager. Es befand sich nah an der Tür, was im Winter zugig sein dürfte, im Sommer aber recht angenehm war. Außerdem handelte es sich um ein Oberbett. Es hatte zwar kein Geländer, und Felicia

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