Sturmzeit
wartete, daß das Leben in ihren Körper zurückkehrte.
Die Revolution begann, mächtig wie ein gewaltiger Feuerbrand, unaufhaltsam wie ein großer Strom, der seine Dämme überflutet. Die rote Fahne wehte zuerst in Petrograd, zwei Tage später in Moskau, und dann erfaßte der Sturm das ganze Zarenreich und hob es aus seinen jahrhundertealten Grundfesten. Am 18. Februar 1917 gab es kein Brot mehr in Petrograd. Die Schaufensterscheiben der Bäckereien gingen zu Bruch, Geschäfte wurden geplündert. An allen Ecken und Plätzen schlossen sich Demonstranten zusammen.
Am 23. Februar fanden Kundgebungen auf den großen Straßen der Stadt, dem Samsonewskij-Prospekt und dem Vyborgkai statt. Die Arbeiter der Putilow Werke traten in den Streik. Am 24. Februar kam es in den bevölkerungsreichsten Vierteln der Stadt, in Petrogradskaja Storona und Wasilewski Ostrow zu blutigen Unruhen. Die Brücken über die Neva wurden von bewaffneten Patrouillen bewacht. In jeder Fabrik Petrograds wurde gestreikt.
Am 25. Februar wurde der Generalstreik ausgerufen. Es kam zu mörderischen Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten.
Der Justizpalast ging in Flammen auf. Am 27. Februar erfolgte die Übergabe der meisten Kasernen an die Revolutionäre. Die Soldaten verteilten Waffen und Munition an das Volk.
Am 28. Februar verließ das Pawlowskij-Regiment, das berühmteste der Kaiserlichen Garde, sein Quartier und zog zum Winterpalast.
Kurz darauf wehte von dessen Zinnen die rote Fahne. Seit diesem Tag, seit dem Nachmittag des 28. Februar 1917, hatte die Kaiserliche Regierung in Petrograd aufgehört zu existieren. Es gab sie nicht mehr. Die Stadt war in den Händen der Revolutionäre.
Der 27. Februar war der Tag, an dem die Unruhen ihren Höhepunkt erreichten. Es war der Tag, an dem Polizeireviere und Gefängnisse brannten und der graue Winterhimmel über Petrograd voller Rauch war. Es gab kaum eine Straße mehr, in der keine Kundgebungen stattfanden, in der keine Fensterscheiben eingeschlagen, Geschäfte geplündert, Häuser besetzt wurden, um Gegner aufzuspüren. Die Polizei, einst korrupt und grausam und die meist gefürchtete Macht im Staat, war nicht länger Jäger, sondern wurde selber gejagt. DiePolizisten fanden keine Unterstützung, nicht bei der Armee und nicht bei den Kosaken, die sich weigerten, auf die Menge zu schießen, und sich unerwarteterweise mit den Revolutionären solidarisierten.
Die Polizisten suchten Zuflucht in wildfremden Häusern, denn gerieten sie in die Hände der aufgeputschten Menge, drohte ihnen ein grausamer Tod: Sie wurden mit Bajonetten erstochen, von Gewehrkugeln durchsiebt, im Fluß ertränkt, in dunklen Hinterhöfen erhängt, niedergetrampelt oder einfach zerrissen. Im ganzen Land gab es keine Institution, die so verhaßt war wie die Polizei.
Mascha war dort, wo das Inferno am heftigsten tobte. Sie hatte sich einen schreiend roten Schal nach Piratenart um den Kopf gebunden, darunter wehten ihre langen Haare. Sie trug ihr altes braunes Kleid mit den vielen Flicken und sah aus, als sei sie leibhaftig der französischen Revolution entstiegen. Sie hätte eine von den Frauen sein können, die mit einem fiebrigen Funkeln in den Augen die Karren begleiteten, die von den Gefängnissen zur Guillotine rollten.
Sie hatte eine Pistole ergattert und schoß einen Polizisten nieder. Er hatte versucht, ein Haus zu verlassen, das von Demonstranten gestürmt worden war, aber zu seinem Unglück stand Mascha vor der Tür. Kaltblütig hob sie die Waffe und schoß. Der Mann starrte sie an, machte ein paar taumelnde Schritte auf sie zu und brach im schmutzigen Schneematsch der Straße zusammen.
Von drinnen erklang lautes Geschrei. »Da ist noch ein Schwein!« rief ein Mann, und die hysterischen Schreie einiger Dutzend Frauen antworteten: »Haltet ihn fest!«
Jetzt rennt er um sein Leben, dachte Mascha. Aus schmalen, kalten Augen beobachtete sie das Haus. Von irgendwoher krachten Schüsse, Schreie hallten durch die Luft. Hundert Feuer brannten in der Stadt.
Der Polizist hatte ein Fenster im zweiten Stock erreicht, und er saß in der Falle, Hinter ihm die tobende Menge, vor ihm der Abgrund. Mascha ging es durch den Kopf: ein Folterknecht am Rande des Todes. Wie armselig werden sie in ihrer Angst! Er wählte den Freitod. Er sprang auf die Straße und blieb in einer seltsam verrenkten Stellung liegen. Er stöhnte leise. Es kostete ihn noch volle fünf Minuten, ehe er sterben konnte. Mascha stand neben ihm.
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