Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
Vom Netzwerk:
gestohlen, ihr ein eigenes Bett erkämpft und Tag und Nacht an ihrer Seite gewacht hatte. Sie hatte ihre Schuldigkeit getan. Oh, bis sie diesen schmierigen, kleinen Wachbeamten soweit hatte, daß er ihren Brief mit hinausnahm! Schaudernd erinnerte sie sich an seine feuchten Lippen auf ihrem Gesicht, an seine fetten Finger im Ausschnitt ihres Kleides. Dem Typhus sei es gedankt, daß er aus Angst vor der Krankheit nicht mehr forderte als ein paar schnelle Küsse. Immerhin, es hatte sich gelohnt. Sie waren frei und in Sicherheit. Kat sollte dankbar sein.
    Sie drängte sich durch das Menschengewühl zu der Schwägerin hin und setzte sich neben sie. »Ist es nicht unglaublich aufregend hier?« fragte sie. »Wir tanzen im Schloßdes Zaren von Rußland! Mach doch ein fröhliches Gesicht!«
    »Aber Felicia!« Kats übergroße, trübe Augen waren von Furcht erfüllt. »Merkst du denn nicht, was hier los ist? Die Leute haben Angst. Sie spüren, daß ihnen der Boden unter den Füßen weggerissen wird.«
    Felicia sah sie lange an, lauschte dann in den Saal hinein. Sie wußte, Kat hatte recht. Zwischen Walzerklängen und Gelächter lauerte die Angst. Hier und da fielen deutsche Worte, Satzfetzen drangen an Felicias Ohr.
    »Die Frage ist doch, kann der Zar noch auf seine Armee zählen?«
    »Er kann nicht mal mehr auf seine höchsten Offiziere rechnen, meiner Ansicht nach.«
    »Verstehst du, was ich meine?« fragte Kat.
    Felicia nickte. »Ja. Irgendwie... bricht hier ein Feuer aus. Und wir geraten mitten hinein!«
    »Sollten wir nicht gleich versuchen, nach Deutschland zurückzukehren?«
    »Das ist zu gefährlich«, widersprach Felicia. Sie mochte nichts davon sagen, daß irgend etwas sie bewog, in Petrograd zu bleiben. Sie gab nicht viel auf solche Gefühle, und es wäre ihr lächerlich erschienen, darüber zu sprechen, aber etwas ließ sie den Entschluß, nach Hause zu fahren, vor sich herschieben. Sie mochte noch nicht zurück, es gab eine Unruhe in ihr, die danach verlangte, gerade dort zu bleiben, wo Leben und Schicksal am turbulentesten zu werden versprachen.
    »Wo ist eigentlich Tante Belle?« fragte sie, um das Thema zu wechseln.
    Beide Mädchen sahen sich um, doch Belle schienverschwunden. Sie machten sich auf die Suche und fanden sie schließlich im Treppenhaus, wo sie in einer Fensternische an die Wand gekauert stand und in ihr Taschentuch hustete. Sie sah sehr blaß aus, die Schminke verbarg nicht die Schatten unter den Augen.
    »Tante Belle, was machst du denn hier?« rief Felicia erschrocken.
    Belle hob den Kopf. »Ach, Kinder, geht doch in den Saal zurück. Ich bin schon in Ordnung!«
    »Du siehst aber gar nicht gut aus. Und du hustest!«
    Ein reißendes Röcheln klang aus Tante Belles Brust. Sie preßte das Taschentuch gegen den Mund und wartete zusammengekrümmt, daß der Anfall vorüberginge. »Es ist wirklich nichts. Eine verschleppte Erkältung. Geht doch und amüsiert euch!« Sie sah den Mädchen nach, wie sie zum Saal zurückliefen. Die Säume ihrer Kleider raschelten über den Boden. Belle atmete tief. Lieber Gott, dachte sie, laß mich nicht wirklich krank werden!
    Irgendwo, wohl in einer der anderen Fensternischen, unterhielten sich leise zwei Männer. »Die Front bricht auseinander. Täglich desertieren Tausende. Es sollen auch wieder Offiziere ermordet worden sein.«
    »Der Zar sollte seine Familie aus Rußland hinausbringen. Die Erde hier wird zu heiß.«
    »Ich fürchte, er begreift den Ernst der Lage nicht.«
    »Das hat er mit den meisten Fürsten dieser Erde gemeinsam. Wenn der eigene Thron zu wackeln beginnt, stellen sie sich blind und taub...«
    Die Stimmen sprachen weiter, aber vor Belles Ohren verrauschten sie. Aus fiebrigen Augen betrachtete sie den Mosaikfußboden, die stuckverzierten Wände, und es kam ihr vor, als löse sich alles auf, als verlören Formen und Farben ihre Umrisse, als reichten ihr elender Körper, die schwankende Halle, die Worte von Umsturz und Revolution einander die Hände.
    Julius braucht mich, dachte sie, wütend und verzweifelt, Julius braucht mich, und ich stehe hier, und das Blut bricht mir aus der Lunge!
    Langsam ließ sie sich auf der marmornen Fensterbank nieder. Noch ein paar Minuten. Gleich konnte sie sich wieder unter die Leute mischen. Die Anfälle folgten dichter aufeinander in der letzten Zeit, aber noch fand sie dazwischen die Kraft, ihr Kranksein vor den Augen anderer zu verbergen. Aus dem Saal klang Musik; mit geschlossenen Augen lauschte sie darauf und

Weitere Kostenlose Bücher