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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
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Gelassen betrachtete sie seine letzten Zuckungen. Vor ihren Augen starb kein einzelner Mann, es war ein ganzes System, das sich dort zu ihren Füßen im Todeskampf wand.
    Sie sah sich um. Nein, von Maksim keine Spur mehr. Er war mit ihr hierhergezogen, hatte sich aber dann einer Gruppe angeschlossen, die den Justizpalast besetzen wollte. Er hoffte, die Unterlagen über Verhaftungen und Prozesse der letzten Jahre in die Hände zu bekommen. Mascha lächelte. Maksim schwebte ein geordneter Umsturz vor. Die Verbrecher des alten Regimes sollten anhand sorgfältig erstellter Beweise überführt und abgeurteilt werden. Kein Morden, kein Brennen. Ein sauberer Untergang des alten Reiches, eine saubere Errichtung des neuen Systems. Er hatte noch nicht begriffen, daß sich die Revolution vom Blut nährt und es braucht, um sich zu erhalten. Das Krachen des Schusses klang fern, so fern, daß sie es erst gar nicht auf sich bezog. Der brennende Schmerz, der gleich darauf ihr Bein zerschnitt, verwunderte sie. Blut durchtränkte ihr Kleid. Sie war in die Knie gesunken, ohne es bemerkt zu haben. Langsam begriff sie: Es war ihr Blut, das klebrig ihr Bein hinunterrann.
    Sie hob den Kopf. Oh, zum Teufel mit dem grinsenden Bastard, der dort breitbeinig vor ihr stand, in schweren, schwarzen Stiefeln. Ein gottverdammter Polizist. Er hatte auf sie geschossen, und jetzt sah er zu, wie ihr Blut in den Schnee sickerte. Allerdings - er grinste nicht. Darin hatte sie sich getäuscht. Sein Gesicht war nur verzerrt, vor Angst, vor Haß, vor Erschöpfung. Mascha hob ihre Pistole, von deren Vorhandensein der andere bislang nichts bemerkt hatte, und schoß. Sie hatte immer schon gut gezielt. Sie traf ihn mitten ins Herz, und er kippte um wie ein Stück Holz.
    Nur fort von der Straße. Bliebe sie hier liegen, würde sie irgendwann totgetrampelt, von Genossen oder von Gegnern. Die Stadt raste. Allzu lange würde keiner mehr feine Unterscheidungen machen. Sie schleppte sich auf allen vieren den Rinnstein entlang. Dort, in diesem Haus, stand die Tür offen, die Menge hatte es heute früh geplündert. Eine ehemalige Bäckerei oder... sie wußte es nicht mehr...
    Sie wußte nur, sie verlor Blut, viel zuviel Blut! Diese tiefrote Spur hinter ihr... vor ihren Augen drehte sich alles. Wer hatte das gesagt, mit dem alten Mann und dem vielen Blut?
    Shakespeare...
    »Mascha spielt die Lady Macbeth!« Erinnerungen an die Schulzeit, an Theaterproben im Englischunterricht. Mascha, das Mädchen mit dem Blut an den Händen. Die Universität, Mascha in weißer Spitzenbluse, die Haare aufgesteckt. »Wir verlangen, daß Sie Frauen zu Ihren Seminaren zulassen, Herr Professor. Wir sind ordnungsgemäß immatrikulierte Studentinnen dieser Universität.«
    »Hören Sie sich diese Suffragette an, meine Herren! Ist es in Ihrem Sinn, daß unsere Vorlesungen auf ein Niveau gesenkt werden, das der Denkungsart dieser Damen entspricht?
    Bedenken Sie sich wohl! Zum Ausgleich würde sich Ihnen hier und da ein ganz reizvoller Anblick bieten...«
    Die Frauenbewegung und der Kampf des Proletariats... Und nun kroch sie hier durch die Straßen von Petrograd und verblutete! Es war folgerichtig, es war konsequent, es war erhebend. Aber sie wollte leben! Sie erreichte die offene Tür und kroch in das verwüstete Innere des Hauses.

    Der Morgen desselben Tages begann im Hause der Bergstroms mit einer Katastrophe. Julius war bereits in die Kaserne gefahren, und die übrige Familie saß noch beim Frühstück - das heißt, sie saßen um den Tisch, doch es gab nichts zu essen, weil die Vorräte verbraucht waren und niemand mehr in der Stadt Brot, Butter oder Milch hatte auftreiben können. Die knurrenden Mägen wurden mit einem dünnen Kaffee-Ersatz beruhigt. Der Morgen war noch dunkel, und nur eine Petroleumlampe brannte, die Elektrizitätswerke streikten bereits.
    Gegen zehn Uhr betrat Olga, das Kindermädchen aus Kasachstan, mit vor Nervosität roten Wangen das Zimmer und erklärte in einer Mischung aus russisch und deutsch, sie könne die kleine Nicola nirgends finden, sie habe bereits alles durchsucht, keinen Winkel des Hauses ausgelassen, und sie hege die Befürchtung, die Kleine sei auf die Straße hinausgelaufen, wahrscheinlich in einer Verkennung der Umstände, da sie wohl das pausenlose Krachen der Gewehrsalven für ein Feuerwerk gehalten habe, und Madame wisse wohl, daß Nicola ganz verrückt sei nach Abenteuern, und außerdem...
    Hier hielt Olga atemholend inne. Was Belle jetzt tat,

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