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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
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bläulich die Eisschollen auf dem Fluß. Mit beiden Händen umklammerte sie das Geländer, während sie weit vornübergeneigt nach Luft schnappte. Wenn diese Bande, diese gottverdammte Bande, sie noch mehr drückte, dann würde sie stürzen. Merkte denn niemand, daß sie gleich fiel? Wo waren Belle und Kat geblieben?
    Heilige Maria, es ist ein Alptraum! Laß es nicht mehr sein als ein Traum. Laß mich aufwachen, daheim in Lulinn. Sie hörte ihren eigenen Schrei, ehe sie die Besinnung verlor und zu Boden fiel - nicht in die tödlich kalten Wellen der Neva, sondern auf den festen Stein der alten Brücke.

    Maksim warf einen letzten Blick auf die Flammen, dann wandte er sich ab. Der Justizpalast glich einem Scheiterhaufen, es war zwecklos, darauf zu hoffen, Unterlagen aus den Flammen retten zu können. Offenbar interessierte sich auch niemand dafür. Der Feuerschein beleuchtete rußgeschwärzte Gesichter. Ein Symbol brannte bis auf seine Grundmauern nieder... das Symbol eines Regimes, einer Justiz, die allzu lange Furcht und Angst verbreitet, allzu viele Andersdenkende in dunkle Kerker, Folterkammern und in die Eiswüste Sibiriens verbannt hatte. Die Menschen wollen Rache, dachte Maksim, Rache, weit mehr als Gerechtigkeit.
    Er fühlte sich erschöpft, und zum ersten Mal fragte er sich, ob er durchhalten würde.
    In Gedanken versunken ging er durch die Straßen. Die Menschen, die ihm entgegenkamen, nahm er kaum wahr. Und dann plötzlich sah er ein Gesicht, das er unter Tausenden erkannt hätte - Felicia. Jeden anderen Menschen hätte er eher inden Straßen von Petrograd zu sehen erwartet als sie. Das kam ihm so unwahrscheinlich vor, daß er sekundenlang glaubte, er habe ein Trugbild vor sich oder falle einer Täuschung zum Opfer. Zwischen den tobenden Menschenmassen, den brüllenden Demonstranten, den panischen Polizisten, den unschlüssigen Kosaken, kam ein junges Mädchen auf ihn zu, eingehüllt in einen schwarzen Pelz, ein blasses Gesicht, umgeben von einer Kaskade dunkelbraunen Haares. Er konnte es nicht fassen. In der brodelnden, überfüllten Stadt trieben sie aufeinander zu, als seien sie in Wahrheit Besucher einer einsamen Insel, die sich bei ihren Spaziergängen am menschenleeren Palmenstrand notwendigerweise irgendwann einmal begegnen mußten. Beide sahen sie einander im selben Moment und blieben voreinander stehen.
    »Maksim!«
    »Felicia!«
    Instinktiv griff er nach ihrem Arm und zog sie ein paar Schritte zur Seite, in den Schutz eines Hauseinganges. »Felicia, was um alles in der Welt tust du denn hier?«
    »Ich suche meine Cousine. Sie ist...«
    Er mußte lachen. Mit einer Naivität, die er an ihr sonst nicht kannte und die wohl eine Nachwirkung gerade erst überstandener Schrecken war, hatte sie seine Frage zu wörtlich genommen. »Nein, ich meine, wie kommst du nach Petrograd?
    Ich dachte, du bist noch in München!«
    »Oh... das ist eine lange Geschichte... ich war als Schwester an der Front in Galizien, und wir wurden während der Brussilow-Offensive gefangengenommen. Meine Tante Belle holte mich aus dem Lager hierher, wir hatten Typhus dort, und... ach, und mein Vater wurde erschossen, von einem russischen Soldaten, irgendwo da unten in der Bukowina, an einem glühendheißen Tag...«
    »Armes Kind«, sagte Maksim sanft. Der Klang seiner Stimmerief sie zurück aus ihrer Verstörtheit.
    »Und was tust du hier?« fragte sie.
    Er lächelte. »Ich mache Revolution. Ich habe eigentlich gar keine Zeit, hier zu stehen und mich mit dir zu unterhalten.«
    »Aber du kannst jetzt nicht einfach fortgehen, Maksim. Ich habe mich verlaufen. Wir sind in eine Demonstration geraten, und fast hätten sie mich ins Wasser geworfen. Ich bin ohnmächtig geworden. Als ich aufwachte, konnte ich Tante Belle und Kat nicht mehr finden.«
    Dicht neben ihnen fiel ein Schuß. Felicia schrie auf. Unwillkürlich zog Maksim sie in seine Arme. An seine Brust gepreßt, atmete sie einen tröstlich vertrauten Geruch. Zigaretten- ja, Maksim hatte immer nach Zigaretten gerochen. Aber dann schlug sie seinen Mantel auseinander und trat einen Schritt zurück, starrte auf die Halterung um seinen Leib, in der er eine Pistole trug. »Maksim...«
    Er war ihrem Blick gefolgt. »Was erschreckt dich so? Als Soldat trug ich auch Waffen, aber davon wurdest du nicht blaß!«
    »Das war Krieg!«
    »Das hier ist auch Krieg. Und da haben kleine Mädchen weiß Gott nichts verloren. Ich bringe dich jetzt zu deiner Tante Belle.«
    »Ich bin kein kleines

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