Sturmzeit
Operationstisch befreit zu werden. Diesmal kämpfte sie dagegen an. Sie würde den Teufel tun, diesen Leuten noch das Klischee des verweichlichten Bürgerfräuleins zu bestätigen. Der Schweiß trat ihr auf die Stirn, als sie Mascha tief in ihrer Bewußtlosigkeit stöhnen hörte. Sie riß sich zusammen. Tief durchatmen... ja, wenn es hier nur einen Hauch frischer Luft gegeben hätte!
»Fertig«, sagte der Arzt auf russisch. Er hielt die Kugel in die Höhe. Alle lachten. Maksim strich Mascha die Haare aus der Stirn, neigte sich über sie. Felicia verzog verächtlich das Gesicht.
In den vergangenen Minuten hatte keiner von ihnen mehr an die Straßenkämpfe gedacht. Deshalb schraken sie alle zusammen und standen sekundenlang wie erstarrt, als plötzlich die Tür aufflog und zwei Polizisten in den Raum stürmten. Der eine von ihnen taumelte und hielt die Hand auf den Bauch gepreßt. Zwischen seinen Fingern sickerte Blut hervor. Der andere schien unverletzt, war aber aschfahl im Gesicht. In beider Augen flackerte Entsetzen.
Der Arzt wich an die hintere Wand zurück. Mascha wälzte sich unruhig zur Seite. Die betäubende Wirkung des Chloroforms ließ nach. Leise und wie ein Kind jammerte sie im Halbschlaf. Felicia rührte sich nicht von der Stelle. Sie hatte Angst. Was bedeutete das schon wieder? Was wollten die beiden? Und was würde geschehen?Augenblicke lang überschaute niemand die Lage. Der verletzte Polizist schwankte in den Knien und sank auf einen Stuhl. Draußen fielen Gewehrschüsse. Der andere Polizist tat einen Schritt nach vorne. Er sagte etwas auf russisch, und plötzlich weiteten sich die Augen des bärtigen Revolutionärs. Er schrie eine Salve unverständlicher Worte und wies auf den Polizisten. Dessen Blässe vertiefte sich, er schwankte zurück, murmelte leise, beschwörende Worte, aber es schien fast, als versage ihm die Stimme. Der Bärtige schrie Maksim etwas zu, wütend, zornig und heiser.
Maksim zögerte. Dann, ehe Felicia ganz begreifen konnte, was geschah, hatte er seine Pistole gezogen. Das Krachen der Schüsse mischte sich mit dem Donnern der Gewehre von draußen und mit Felicias Schreien. Die Polizisten sackten zu Boden und blieben reglos liegen.
Plötzlich war es still im Raum.
Maksim sah sehr elend aus. Mascha, zwischen Besinnungslosigkeit und Wachen schwankend, stellte ein paar verwirrte Fragen, die niemand beachtete. Felicia kuschelte sich schutzsuchend in ihren Mantel. Eine angestrengte Falte auf der Stirn, betrachtete sie die beiden Toten zu ihren Füßen. Es war alles so schnell gegangen.
»So ist es nun mal«, sagte Maksim, »das ist Revolution. Dieser Polizist hat Ilja«, er wies auf den bärtigen Medizinstudenten, »im Krestygefängnis gefoltert. Ich mußte ihn erschießen. Du verstehst es vielleicht nicht, aber...« Er brach ab und schrie plötzlich, während er nach Felicias Arm griff: »Es mußte sein!. Was hätte ich tun sollen? Ich habe gleich gesagt, daß du in einer Revolution nichts verloren hast!«
Felicia sah ihn kühl an. »Lieber Himmel, ich sag' ja gar nichts«, entgegnete sie und machte sich unwirsch los. Sie hatte Zeit gehabt, ihre Fassung wiederzufinden, und war zu dem Schluß gelangt, daß die toten Polizisten sie nichts angingen.
»Hast du... vielleicht eine Zigarette für mich?«
Sie setzte sich, schlug die Beine übereinander und nahm sich eine der dargebotenen Zigaretten. Als Maksim sich vorbeugte, um ihr Feuer zu geben, gewahrte sie einen neuen Zug um seinen Mund. Sie begriff, daß sie sich eben gerade einen Anflug von Achtung bei ihm erworben hatte.
Mit einer stürmischen und tränenreichen Begrüßung wurde Felicia daheim empfangen. Kat umarmte sie wieder und wieder, und Belle verkündete, sie müßten jetzt alle einen Schnaps trinken, um wieder zu Kräften zu kommen. Sie drückte Maksim, der sich im Hintergrund hielt, ein Glas in die Hand und prostete ihm zu. Sie kannte Marakow noch von Lulinn her und meinte sich zu erinnern, daß er oft mit Felicia ausgeritten und spazierengegangen war. Sie hatte es für eine harmlose Jugendfreundschaft gehalten. Nun, nachdem ihre erste Verwunderung darüber, was er hier tat, abgeklungen war, fiel ihr Blick auf das Gesicht ihrer Nichte. Mit einem Schlag begriff sie und begann Verwicklungen zu ahnen.
»Ist Nicola wieder da?« fragte Felicia, nachdem Kat endlich davon abgelassen hatte, sie zu umarmen und zu küssen. Belle nickte. »Sie war tatsächlich auf die Straße gelaufen, ist aber nicht allzu weit gekommen.
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