Sturmzeit
Eine Freundin brachte sie zurück. Oh, war das ein Tag! Ich brauche glatt noch einen Schnaps!«
»Ich möchte mich jetzt verabschieden«, sagte Maksim mit höflicher, kalter Stimme.
Belle griff nach seiner Hand. »Darf ich Sie in den nächsten Tagen zum Essen einladen, Monsieur Marakow?«
»Ich fürchte, das ist unmöglich. Ich...« nun huschte amüsierter Spott über sein ernstes Gesicht, »ich stehe gewissermaßen auf der anderen Seite, wissen Sie.«
»Wie schade«, entgegnete Belle, ohne daß ihre Liebenswürdigkeit auch nur um eine Schattierung blasser geworden wäre, »dann leben Sie wohl. Und kommen Sie gut nach Hause.«
Kalte Winterluft schlug durch die geöffnete Haustür. Irgendwo sang jemand dröhnend die Internationale. Es wurde nicht mehr geschossen. Maksim blieb im Licht der Hauslaterne stehen, hinter ihm fielen Schneeflocken zur Erde, Zinnen, Dächer und Türme schimmerten weiß durch die Dunkelheit. Felicia sah ihn an und wußte, daß es von allen Bildern Maksims dieses war, das sich ihr am nachdrücklichsten einprägen würde. Sie stand im warmen Haus, und er stand im Schnee, und zwischen ihnen tat sich ein Abgrund auf, der unüberwindbar schien. Sie hatte ihn nie mehr geliebt, und nie war sie sich der Grenzen ihrer Macht deutlicher bewußt gewesen als in dem Augenblick, da er langsam seine Handschuhe überstreifte, ihr noch einmal kurz zunickte und in der Nacht verschwand. Verwundert betrachtete sie sich und fragte sich, was aus ihren Waffen geworden war. Ihr schönes Gesicht, ihr Lächeln, ihr glänzendes Haar, ihre zarte Figur hatten offenbar alle Wirkungskraft eingebüßt. Zum ersten Mal in ihrem Leben geriet ihr unbegrenztes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten ins Schwanken.
»Wirst du sie wiedersehen?« fragte Mascha. Sie lag im Bett, und ihr Bein schmerzte heftig, aber allererste Kräfte kehrten wieder in sie zurück. Maksim stand am Fenster, vor dem sich der Schnee türmte. Bald würden sie hier unten überhaupt kein Tageslicht mehr bekommen. Es dauerte eine Weile, ehe er auf Maschas Frage antwortete. »Nein«, sagte er dann entschieden,»mit einiger Sicherheit nicht. Wenn sie mir nicht so wie heute buchstäblich in die Arme läuft, sehe ich sie nie wieder. Es liegt mir nichts an ihr.«
5
»Ich glaube, daß ich alles, was war, das Lager und die Krankheit, überstanden habe, weil es dich gibt und es uns bestimmt ist, zusammen glücklich zu sein. Deshalb glaube ich auch fest daran, daß wir beide aushalten, was immer auch noch passiert. Wenn ich nur wüßte, wie es dir geht! Ich habe so lange nichts von dir gehört. Aber ich spüre, daß du am Leben bist!«
Kat legte die Feder hin und las den Brief noch einmal. Er war an Phillip gerichtet, aber sie hatte keine Ahnung, ob er ihn jemals erreichen würde. Sie wollte ihn nach München an ihren Vater schicken und ihn bitten, ihn weiterzuleiten. Nach Frankreich. Sie stand auf und sah zum Fenster hinaus. Es war noch früh am Morgen, kein Streifen Licht zeigte sich am Horizont. Wie oft nach Nächten voller Schnee war der Morgen von einer schweren, verzauberten Ruhe.
Kat wollte den Brief gleich fortbringen. Sie hoffte, daßniemand Schwierigkeiten deswegen bekäme. Belle hatte gesagt, die Mädchen sollten mit Briefen nach Deutschland sehr vorsichtig sein, und Briefe an Elsa waren daher auch nur kompliziert verschlüsselt verfaßt worden. Und die an Phillip... Liebesbriefe, wer sollte ihnen daraus einen Strick drehen wollen? Sie verließ ihr Zimmer. Nichts regte sich im Haus. Sie huschte die Treppe hinunter - im Dunkeln, das Licht brannte immer noch nicht - und zog ihren Mantel an. Als sie die Straße entlanging, gewahrte sie in vielen Häusern zerbrochene Fensterscheiben. Eine Bretterwand vor einer Baustelle war von Gewehrkugeln durchsiebt. Hinter einem Zaun erblickte sie etwas, das wie ein Fuß aussah. Sollte da ein Toter liegen? Es mußte viele Tote gegeben haben gestern.
Schaudernd wandte sie sich ab und lief eilig weiter.
Nina hatte die Nacht bei ihrem Freund Jurij verbracht, und es war eine der phantastischsten Nächte gewesen, die sie beide je gehabt hatten. Die Revolution bekam Jurij. Er war am Tag zuvor im Zug demonstrierender Arbeiter durch Petrograd gezogen, hatte die Fäuste geschwungen, Steine geworfen, mit den anderen in lauten, wütenden Sprechchören Brot und Frieden, Freiheit und Gleichheit gefordert, und das Bewußtsein, Teil einer großen, einigen, unaufhaltsamen Bewegung zu sein, gab ihm Kraft und
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