Sturmzeit
Reise?«
»Ich fürchte, nein.« Mit letzter Kraft zwang sich Belle zu einem munteren Ton. »Komm, ich bring dich ins Bett. Soll ich dir noch eine Geschichte erzählen? Ich kenne eine, die ist sehr spannend. Paß auf, es war also einmal...«
Auf dem Weg zum Bahnhof erlitt Belle einen furchtbaren Hustenanfall, der sie zwang, das Auto an den Straßenrand zu steuern, anzuhalten und die Attacke über sich ergehen zu lassen. Halb erstickt hing sie über dem Lenkrad. Felicia, die neben ihr saß, zitterte vor Angst. Es schien ihr höchst zweifelhaft, ob sie den Nachtzug nach Reval noch erreichen würden, ganz abgesehen davon, daß möglicherweise überhaupt keine Züge mehr fuhren. Sie hatte Belle fast gewaltsam aus dem Haus schleifen müssen.
»Fahrt ihr allein, Kinder, du und Kat und Nicola. Fahrt nach Reval, Julius' Mutter wird euch dort aufnehmen. Aber ich bleibe hier. Ich lasse Julius nicht im Stich.«
»Tante Belle, du kannst doch nichts für ihn tun! Bitte, wir müssen versuchen, hier wegzukommen. Sie werden Julius wieder frei lassen, und dann kommt er uns nach. Belle!«
»Fahrt ihr allein.«
Felicia hatte die Nerven verloren und nur noch geschrien. »Du wirst mitkommen, du wirst, und wenn ich dich an den Haaren bis zum Bahnhof schleifen muß! Du hast nie ein Gefängnis erlebt, deshalb weißt du nicht, was dich erwartet, denn wenn du es wüßtest, dann würdest du um dein Leben rennen! Du wirst mitkommen, denn es ist Krieg und Revolution, und ich habeAngst, ich habe höllische Angst, allein mit dem Zug bis Reval zu fahren, durch dieses ganze Chaos hier, als Deutsche, die kein Wort russisch versteht, begleitet von Kat, die sich noch kaum vom Typhus erholt hat, und von Nicola, die gerade neun Jahre alt ist! Du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen, Tante Belle!«
Belles Widerstandskräfte erlahmten. Ihre Angst um Nicola gab den Ausschlag. Nicola mußte fort aus Petrograd, und wenn Felicia sich weigerte, allein zu fahren, dann blieb auch Nicola zurück. So stieg sie schließlich ins Auto.
Als der Hustenanfall kam, hatten sie die halbe Strecke zum Bahnhof zurückgelegt. Die Straßen waren voll von Menschen, die sangen und schrien. Über den schwarzen Nachthimmel breitete sich rotglühendes Licht, der Schein eines gewaltigen Feuers.
Das Litauische Gefängnis ging in Flammen auf. Die Stadt raste.
»Tante Belle, wenn wir in Reval sind, solltest du zu einem Arzt gehen«, sagte Felicia. Im gleichen Moment hob Belle den Kopf. Im Widerschein des Feuers erkannte Felicia das blutig gefärbte Taschentuch in ihren Händen. Sie hielt den Atem an.
»Tante Belle...«
Belle schoß ihr einen wilden, warnenden Blick zu. Vom Rücksitz erklang Kats Stimme. »Was ist denn?«
Belles und Felicias Blicke kreuzten sich erneut; in Felicias Augen lag unverhohlenes Entsetzen. Dann sagte sie: »Nichts, Kat. Ich finde nur, Tante Belle sollte etwas gegen... ihre Bronchitis tun.«
»Es geht schon wieder.« Belle steuerte den Wagen auf die Straße zurück. Schneeschauer stoben gegen dieWindschutzscheibe, schemenhaft glitten Häuser und Mauern draußen vorüber. Felicia vergrub sich tiefer in ihren Mantel. Nach und nach erst begriff sie ganz, was sie eben gesehen hatte. Und manches andere dämmerte ihr: Belles elendes Aussehen,die Blässe ihres Gesichtes, der Eindruck, sie werde mit jedem Tag dünner und weniger - all das fügte sich nun zu einem Bild zusammen. Schwindsucht, dachte sie, und die Panik stieg in ihr auf, o Gott, sie hat...
Sie bohrte die Fingernägel in die Hand, um sich zu beherrschen. Sie mußte jetzt die Nerven behalten, auch wenn sie das Gefühl hatte, ihr schwinde der Boden unter den Füßen. Belle war ihr Halt gewesen, aber Belle war eine todkranke Frau... Der Bahnhof war schwarz von Menschen, trotz dernächtlichen Stunde. Viele wollten das brodelnde Petrograd verlassen, es gab kaum ein Durchkommen. Felicia und Belle trugen die Koffer, Kat führte Nicola an der Hand.
»Bleibt dicht hinter mir«, beschwor Felicia die anderen.
»Wenn wir uns hier verlieren, finden wir uns nie wieder.«
Belle übernahm es, Fahrkarten zu besorgen und den Schaffner zu fragen, ob überhaupt noch ein Zug abgehen würde in dieser Nacht. Felicia, Kat und Nicola warteten an einen Pfeiler gelehnt. Mit müden, brennenden Augen starrten sie in das Gewühl ringsum. Nicola schlief fast im Stehen ein; vor Erschöpfung hatte sie sogar aufgehört, nach ihrem Vater zu fragen. Kat zitterte vor Kälte, trotz des warmen Mantels, den sie trug. Hin und
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