Sturmzeit
dürfe.
»Nichts zu essen, nichts zu essen«, murmelte die Alte nur unglücklich. Felicia überlegte einen Moment, ob sie mit Kat und Belle teilen müßte, aber dann siegte ihre Gier. Sie verschlang das staubige Gebäck, das vom vorletzten Weihnachtsfest übrig geblieben sein mußte. Gerade als sie fertig war, ging oben die Haustür. Sie vernahm schwere, langsame Schritte.
»Der Herr Oberst«, flüsterte die Köchin ehrfürchtig.
»Um die Zeit schon?« fragte Felicia. Im gleichen Augenblick steckte Olga, das Kindermädchen, den Kopf zur Tür hinein. Sie trug bereits ihren Mantel, denn Belle hatte es mit ihrer Kündigung ernst gemeint: Bis zum Abend sollte Olga verschwunden sein.
»Hier sind Sie, Madame Lombard! Ich suche Sie schonüberall!« Olga war lange genug im Haus, um ein fast akzentfreies Deutsch zu sprechen. »Könnte ich einen Moment mit Ihnen reden?«
»Ja?«
»Allein«, sagte Olga mit einem Seitenblick auf die Köchin. Felicia gab es auf, noch etwas zu essen zu finden. Etwas erstaunt folgte sie Olga in die nebenan gelegene Wäschekammer. Oberst von Bergstrom und Belle standen im Wohnzimmer, dicht aneinandergeschmiegt, einer die Arme um den anderen geschlungen. Belle hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt, und er küßte sanft ihre rotbraunen Haare. Sie schwiegen lang, dann sagte Julius: »Ich hätte nie geglaubt, daß das passieren könnte. Das Pawlowskij-Regiment ist das berühmteste, das ehrwürdigste unter allen Regimentern der Kaiserlichen Garde. Ich hätte jeden Eid geleistet, daß wir, was auch geschieht, beim Zaren bleiben. Und nun sind es meine Kameraden, meine Soldaten, die den Winterpalast besetzt und die rote Fahne gehißt haben. Es erscheint mir wie ein böser Traum.«
Belle hob den Kopf und sah ihn an. »Und du?«
Mit einer ungeduldigen Bewegung löste er sich von ihr und trat einen Schritt zurück. »Ich bin hier, wie du siehst!«
»Was ich meine, ist: Wie wird diese Sache für dich ausgehen?
Du hast dich jetzt offen von der Revolution distanziert!«
»Ich weiß. Es ging nicht anders. Ich kann meine Überzeugung nicht verraten. Weiß Gott, ich stehe nicht mit ganzem Herzen hinter dem Zarenreich. Aber ich habe einen Treueeid geleistet. Ich kann es vor allem nicht billigen, auf welche Weise hier ein System aus seinen Angeln gehoben wird. Ich kann mich nicht mit den Menschenhorden solidarisieren, die durch die Straßen ziehen, Polizisten in Stücke reißen und Häuser in Brand setzen!«
»Wenn du das nicht kannst, sollten wir Petrograd verlassen«, entgegnete die praktische Belle, »und zwar möglichst rasch. Wir sollten nach Reval gehen, zu deiner Mutter.«
»Fahnenflüchtig werden?«
»Flüchtig! Was solltest du hier denn noch tun, als auf deine Verhaftung warten? Es sind viele Offiziere festgenommen worden in den letzten Monaten. Willst du der nächste sein?«
»Natürlich nicht.«
»Deine Soldaten grüßen dich nicht mehr. Sie würden im Zweifelsfall auch deinen Befehlen nicht mehr folgen. Deine Anwesenheit hier ist also im Augenblick... überflüssig. Du solltest Urlaub machen und dich aufs Land zurückziehen.«
»Ich glaube, das ist unmöglich, Belle.«
»Ich glaube, es ist unser einziger Weg, Julius.«
Einer so unnachgiebig wie der andere, standen sie einander gegenüber.
Unten in der Wäschekammer redete unterdessen Olga heftig auf Felicia ein. »Es ist ja so, daß ich wirklich keinen Grund habe, Madame einen Gefallen zu tun, und ich weiß auch gar nicht, warum ich es tue.« Olgas Hand schloß sich fest um einen kleinen Geldbeutel. Felicia war nach oben gelaufen und hatte ihn aus Belles Handtasche gefischt.
»Aber ein gewisses Treuegefühl hat man eben doch.«
Felicia sah sie verächtlich an. »Treue! Ihre Treue lassen Sie sich gut bezahlen. Also, was haben Sie zu sagen?«
»Wenn Madame mich von einem Tag zum anderen auf die Straße setzt, muß ich ja dafür sorgen, daß mir irgend etwas zum Leben bleibt. Es ist nur recht und billig, denn ich muß mir jetzt eine Unterkunft suchen und die schließlich bezahlen. Aber ich kann natürlich auch gleich gehen!« Mit gekränkter Miene wandte sie sich zur Tür. Aber Felicia packte schnell ihr Handgelenk und zog sie zurück. »Halt! So einfach geht das nicht. Sie haben Geld bekommen, nun reden Sie auch!«
Olga zupfte ihren abgetragenen Mantel zurecht. »Nina ist ein gehässiges kleines Ding, Madame, das kann ich nur sagen. Diehat immer auf den Tag gewartet, an dem sie den Herrschaften was antun kann. Meine Zeit kommt,
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