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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
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Herr?«
    »Er... wird später kommen. In Petrograd ist die Hölle los. Alles geht drunter und drüber. O Gott«, Belle strich sich über die nassen Haare, aus denen der Schnee taute, »wir brauchen etwas zu essen. Und Nicola muß sofort ins Bett. Wo ist denn die Baronin?« Sie sah die Treppe hinauf, als erwarte sie dort ihre zarte, weißhaarige Schwiegermutter im langen, dunklen Spitzenkleid auftauchen zu sehen. Stattdessen erschienen zweiDienstmädchen, die die Ankommenden neugierig musterten. Die Unruhe, die Belle unterdrückt hatte, flammte plötzlich wieder auf. »Wo ist die Baronin?« wiederholte sie. Sascha blickte zu den beiden Mädchen hin, die beiden Mädchen zu Sascha. Eine beklemmende Stille breitete sich aus. Belles Augen verengten sich. »Ich erwarte jetzt eine Antwort«, sagte sie leise. Sascha räusperte sich. »Nun...«
    »Ja?«
    »Die Frau Baronin ist leider... sie war schon seit Jahren krank... und letzte Woche...«
    »Sascha!«
    »Der Arzt war bis zuletzt bei ihr. Er konnte nichts tun. Sie ist friedlich eingeschlafen.«
    Belle starrte ihn an. Sekundenlang konnte sie kaum begreifen, was sie eben gehört hatte. Endlich sagte sie: »Das ist doch nicht möglich! Julius' Mutter stirbt, und kein Mensch sagt uns etwas!«
    »Wir dachten.. « stotterte Sascha. Er sah wieder zu den beiden Mädchen hinauf, aber die blieben kühl und unbeeindruckt. Belle war gefangen in ihrer Verwirrung und Betroffenheit, aber Felicia spürte die Feindseligkeit, die ihnen allen entgegenschlug und begriff: Man hatte sich hier nach dem Tod der alten Baronin ein gutes Leben gemacht. Und als letztes hatte man auf Belle und ihre Familie gewartet. Krieg und Revolution hatten die Verhältnisse geändert; nicht Herren und Diener standen einander gegenüber, sondern Feinde.

6

    Die estnische Nordküste war ein schönes Land mit ihren Kiefernwäldern, Sümpfen und Feldern. Heller Kalkstein säumte die Buchten, an die blau glitzernd und weiß schäumend die Wellen der Ostsee rollten. Die Gutshäuser lagen in großen Parks mit weiten, gepflegten Rasenflächen, und von den Terrassen aus konnte man das Meer zwischen den Bäumen schimmern sehen. Am Strand gab es Badehäuser und Boote, Schuppen, in denen Liegestühle und bequeme Korbsessel bereitstanden. Alles war darauf angelegt, das Leben so bequem und schön wie möglich zu machen. Aber unter der Oberfläche von Anmut und Schönheit gärte es. Zwei Gruppen teilten sich das Land zwischen Ostsee und Narwa: auf der einen Seite die Baltendeutschen, adelig zumeist, reich, unbekümmert die Privilegien genießend, die ihnen als den ›Herren‹ des Landes zustanden. Auf der anderen Seite estnische Bauern, denen die Aufgabe zugeteilt war, den Herren zu dienen. Ihr Leben rieb sich meist auf in der Sorge, sämtliche Mäuler der oft überreichen Kinderschar zu stopfen. Der Blick auf die feudalen Herrensitze nebenan ergrimmte sie. Dort hatte man Geld, man hatte immer viele Gäste, man lebte sorglos und
    verschwenderisch und vielfach in provozierender Abkehr von alten russischen Traditionen. Mit Kriegsausbruch verschärfte sich die Lage. Nun waren alle Deutschen Feinde, auch wenn sie unter russischer Fahne kämpften. Daß die jungen Balten selber im Schützengraben lagen, statt sich auf Tennisplätzen und am Strand herumzutreiben, interessierte niemanden mehr. Der Haßhatte zu lange gewährt, das veraltete System konnte nicht mehr an Boden gewinnen. In den Bauernstuben gärte es. Petrograd war nur der Anfang gewesen.
    Am 29. Februar 1917 trat die Provisorische Regierung unterder Präsidentschaft des Fürsten Lwow an. Am 2. März dankte der Zar ab.

    Belle nahm im Haus die Zügel in die Hand. Nichts konnte ihre Selbstsicherheit untergraben, und nach ein paar Tagen stummer, haßerfüllter Auflehnung fügten sich die Dienstboten und Gutsarbeiter ihrer klaren, festen Stimme. Sie ließ sich nicht die allergeringsten Sorgen anmerken, aber sie wußte, daß sie alle auf einem Pulverfaß saßen. Nur ein kleiner Funke noch fehlte zur Rebellion. Und dann... ihre Kräfte schwanden von Tag zu Tag. Die frische Luft tat ihr zwar gut, sie hustete nicht mehr so viel, aber sie merkte, daß sie langsam schwächer wurde. Sie schlief immer mehr und länger, fühlte sich dabei immer erschöpfter. Wenn sie sich im Spiegel betrachtete, dachte sie entsetzt: Das Gesicht einer alten Frau!
    Dann beschlich sie die Angst, jemand könne etwas merken. Wenn die Dienstmädchen sie lange und prüfend musterten, ging ihr sofort durch

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