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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
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niemand ans Telefon gegangen. »Ich verstehe das nicht«, sagte sie unruhig, »sie muß zu Hause sein! Es müssen auch Dienstboten da sein. Ich frage mich, was das bedeutet.«
    »Vielleicht hat niemand das Telefon gehört.«
    »Das wäre sehr merkwürdig. Es ist ärgerlich, denn nun werden sie uns natürlich keinen Schlitten nach Jowa schicken, und ich weiß nicht, wie weit wir bei dem Schnee zu Fußkommen werden.«
    »Laufen?« fragte Kat entsetzt. »Aber...«
    »Es wird uns nicht umbringen«, unterbrach Felicia scharf. Sie war zu müde und zu nervös, um Kats Jammern ertragen zu können. Immer schaut sie mich an, als könnte ich alles in Ordnung bringen, dachte sie gereizt.
    Der Zug nach Jowa hatte nur eine Stunde Verspätung, außerdem fanden sie alle einen Sitzplatz. Kat und Nicola schliefen sofort ein. Belle und Felicia unterhielten sich flüsternd.
    »Es sind zwei Kilometer vom Bahnhof bis zum Gut«, sagte Belle, »und wer weiß, was wir dort vorfinden. Ich habe kein gutes Gefühl.«
    »Aber wir müssen dahin. Wir können ja nicht im Freien kampieren.«
    »Natürlich müssen wir.«
    Jowa hatte eine kleine, verschlafene Bahnstation, die nun im Schnee gänzlich der Welt entschwinden zu wollen schien. Der Bahnhofsvorsteher schlurfte aus seinem Häuschen, sonst aber rührte sich nichts. Nur wenige Reisende stiegen aus, alles Esten, von denen einige den feinen Damen in ihren Pelzen feindselige Blicke zusandten. Belle fragte den Bahnhofsvorsteher, ob man einen Schlitten bekommen könne, aber der zuckte nur mit den Schultern, schüttelte dann den Kopf.
    »Es hilft nichts«, sagte Belle resigniert, »wir müssen zu Fuß los. Komm, Nicola, nimm meine Hand!«
    Langsam setzte sich die kleine Prozession in Bewegung. Jede hatte ihren Koffer in der einen Hand, mit der anderen rafften sie Rock und Mantel. Sie wechselten einander darin ab, die weinende Nicola zu führen, die im Schnee fast ganz versank und sich als schier unerträgliches Gewicht an den jeweils sie haltenden Arm hängte. Wo die Landstraße verlief und wo Felder waren, konnten sie nicht mehr erkennen. Und es hörte nicht auf zu schneien. Mit jedem Schritt standen die Frauen bis über die Knie im Schnee. Stiefel und Strümpfe waren längst völlig durchweicht, die Säume der Mäntel schwer von Eis, die Füße und Knöchel empfindungslos.
    »Tante Belle, bist du denn sicher, daß wir noch in der richtigen Richtung gehen?« fragte Felicia, die das Gefühl hatte, sie müßten schon seit Stunden unterwegs sein, »hier ist ja weit und breit kein Haus!«
    »Wir sind sicher richtig. Vielleicht haben wir die Straße verlassen, aber die Richtung stimmt.«
    »Wenn ich das einmal meinen Kindern und Enkeln erzähle«, ließ sich Kat etwas kurzatmig vernehmen, »wie ich während der Revolution aus Petrograd floh und mich durch eine verschneite Winternacht und die Einsamkeit Estlands kämpfte... sie werden es mir kaum glauben!«
    »Im nachhinein wird die Geschichte nicht einer gewissen Romantik entbehren«, meinte Belle, »bloß im Augenblick... ach Gott, Nicola schläft schon im Laufen ein! Kind, wir können nicht ausruhen. Wir erfrieren sonst.« Sie blickte angestrengtgeradeaus. »Könnte es sein, daß da vorne ein Licht ist?«
    Mit gestärkter Zuversicht stapften sie weiter. Belle stieß einen Schrei aus, als sie an eine hohe Parkmauer kamen. »Das ist unsere Mauer! Jetzt nur noch die Auffahrt, dann haben wir es geschafft!«
    Die Auffahrt erwies sich als lang und unwegsam. Sie war zu beiden Seiten von Tannen gesäumt, deren Zweige sich unter der Schneelast müde zur Erde senkten. Am Ende mündete der Weg in einen rechteckigen Hof, der an drei Seiten von den Flügeln des Herrenhauses umschlossen war. Erstaunlicherweise brannte in fast allen Zimmern Licht. »Seltsam«, meinte Belle, »es muß doch schon nach Mitternacht sein!« Sie schlug mit dem Türklopfer an die Tür.
    Es dauerte lange, bis geöffnet wurde. Dann erschien das runzlige Gesicht eines alten Mannes. Er starrte die unerwarteten Besucher verblüfft an. »Madame... von Bergstrom?«
    »Sascha! Sascha, warum, um alles in der Welt, geht ihr nicht ans Telefon? Wir mußten zu Fuß von Jowa bis hierher laufen!«
    »Oh...«
    »Jetzt laßt uns wenigstens hinein. Wir sind halb erfroren und todmüde.«
    Sascha trat zurück. Sie stolperten in die Halle, ließen die Koffer fallen, bewegten vorsichtig die schmerzenden Finger.
    »Kommen Sie aus Petrograd?« fragte Sascha. Er schien ganz durcheinander. »Wo ist denn der

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